Gegen alle Stereotype

Arm, schwul und Schwarz zu sein bezeichnete James Baldwin als „Hauptgewinn“. Zum runden 100. Geburtstag entdeckt ihn René Aguigah als vielschichtigen Autor

Blickfänger, spezifischer Intellektueller, afroamerikanischer Humanist zwischen den Stühlen: James Baldwin (1924–1987) im Jahr 1963 Foto: Bettmann/getty

Von Diedrich Diederichsen

In René Aguigahs Buch über James Baldwin gibt es eine Reihe von Fotos des Schriftstellers, die man sich sehr gern und lange anschaut. In „James Baldwin mit Kindern in New Or­leans um 1963“ hockt der Autor in einem offensichtlich winterlichen New Orleans auf einem trostlosen Bürgersteig, von zwei Kindern sowie einer stehenden und einer umgestürzten Mülltonne umgeben. Er trägt einen gefütterten Wildledermantel und schaut aus der trüben leeren Stadtlandschaft heraus, an dem Fotografen Steve Schapiro vorbei durch die fast kreisförmigen Gläser seiner Sonnenbrille in irgendeine melancholische Ferne. Der kleine Junge zu seiner Rechten folgte dem Blick dieses zugleich explosiv und intensiv wirkenden, eigenartig kauernden, scheinbar zum Sprung bereiten Mannes mit der exzentrischen Brille.

Denselben Mantel trägt er auch indoors, 163 Seiten weiter, wieder mit einem traurigen Kind, wieder 1963, aber nunmehr in North Carolina vor einem Wandteppich mit einem Jesus, der mit einem Handy zu telefonieren scheint. Das Größte ist aber der einen auf dem Fußboden liegenden Text von der Couch aus redigierende Baldwin, ebenfalls 1963, der dramatisch erstaunt in die Kamera schaut, als hätte man ihn bei etwas richtig Schlimmen erwischt.

Alle drei Bilder erzählen von einem Mann, der eine starke Wirkung auf seine Umgebung ausgeübt hat, einen Blickfänger und Kommunikator, der zugleich etwas Erratisches hatte. Auch sein Biograf Agui­gah schreibt das aktuelle Interesse an Baldwin neben Raoul Pecks erfolgreichem Film „I Am Not Your Negro“ den zahlreichen in Social Media kursierenden Schnipseln aus Talkshows und öffentlichen Auftritten zu, die Baldwin als pointierten, scharfzüngigen Charismatiker zeigen. Baldwin war ein Medienprofi, ein öffentlicher Intellektueller, auch wenn Aguigah ihn eher als „spezifischen Intellektuellen“ im Sinne Foucaults sieht, da er Zeit seines Lebens immer wieder zu einem Themenkreis sich geäußert hat, Race und Rassismus.

Aber den öffentlichen Intellektuellen alter Schule machte ja vor allem aus, dass sein Charisma auch denjenigen half, ihn zu verstehen, mindestens aber zu respektieren oder zu kennen, die seine geschriebenen Ideen nie angefasst hätten – ob aus intellektuellen oder weltanschaulichen Beschränkungen, wäre egal. Baldwin überwindet die so­zia­le Schranke des Symbolischen, des Textes. Wie viele der neuen Stars der 1960er drängt er ins Bild.

Baldwin selbst wusste das, war aber auch kein reiner Aktivist. Er unterscheidet die Situation des öffentlichen Auftritts, in der man etwas sehr genau wissen muss und sich dessen sicher sein, von der Situation des Schreibens, in der man nichts weiß. Oft zog er sich zurück, verließ die USA und lebte in Paris, Istanbul, schließlich in Südfrankreich, ausdrücklich um dem Schicksal seiner Figur Rufus zu entgehen, der in New York von einer Brücke sprang: Gründe für Verzweiflungsakte des bildungsfern in Harlem aufgewachsenen Hochbegabten gab es genug.

Auch wenn er arm, schwul und Schwarz zu sein als einen „Hauptgewinn“ bezeichnete. Weniger für eine „Expertise“, so Baldwins Worte, zu der ihm die „Hautfarbe“ verholfen habe, sondern eher als Leitplanken eines humanistischen Existenzialismus, dessen Hauptgegner das Stereotyp war: ethisch wie ästhetisch. Romanfiguren sollten komplex, unvorhersehbar, in Entwicklung befindlich sein. Aber auch der Rassismus wird vor allem als Quelle von Stereotypen gehasst und bekämpft. Alle anderen Benachteiligungen ergeben sich daraus.

Spätere Rassismustheorien sind da weniger humanistisch, aber auch Baldwin waren strukturelle und ökonomische Einschätzungen nicht fremd – aber sie waren für den Dichter nicht so ohne Weiteres zu adressieren. Der andere Mensch mit seinen „Vorurteilen“ (wie man damals sagte) schon.

Aguigahs übersichtlicher, gewinnend geschriebener biografischer Essay richtet sich nicht an Spezialist_innen, sondern hat das große Verdienst, den Autor von sechs ­Romanen und zahlreichen Essays, darunter einigen sehr langen, die eigene und sehr einflussreiche Buchpublikationen wurden wie „The Fire Next Time“, nicht so sehr auf Thesen, aber doch auf wiederkehrende Motive und Grundideen zu bringen. Dass nicht nur die Afro­ame­ri­ka­ner_in­nen, sondern auch die weißen Ame­ri­ka­ne­r_innen als Opfer des (eigenen) Rassismus zu gelten hätten, ist eine(s) davon. Rassistisch zu denken und zu fühlen, beschränkt und erniedrigt die menschliche Existenz fast so wie die rassistische Unterdrückung selbst. Weder Agui­gah noch Baldwin sprechen das so aus, aber im Kern ist der Maßstab der Humanität die existenzialistische Wahl in Freiheit – Strukturen, Systeme, Verhältnisse und andere Determinismen spielen eine nachgeordnete Rolle.

Es macht Spaß, Baldwin wieder zu lesen, wenn man Aguigahs instruktive Beobachtung im Kopf hat, dass Baldwin in der ersten Person Singular als Afroamerikaner, in der ersten Person Plural aber als Amerikaner spricht. Das ist tatsächlich seine Alternative zu der berühmten Formel von der „­Double Consciousness“, die auf W.E.B. Du Bois zurückgeht und als Problem beschreibt, dass die „Souls of Black Folks“ (DuBois) nicht nur von Selbst- und Fremdbild, sondern zwischen Selbst- und zwei verschiedenen antagonistischen Fremdbildern bedrängt werden. Der Kollektivsingular „Ich“ – wie in „Ich habe die Baumwolle gepflückt“ – und das „Wir“ einer Gesellschaft, die sich vom Kommunismus bedroht fühlt oder über Integration diskutiert, können ohne große Erklärungen in virtuos geführte Auseinandersetzungen als Schnitt- und Teilmengen eingeführt werden – ohne absolute Gegensätze zu bilden.

Wenn ich aber Einwände dagegen habe, Baldwin einen Aktivisten zu nennen, meine ich nicht, dass er kein extrem engagierter Autor war, ein Autor, der wie Agui­gah immer wieder vorführt, buchstäblich die Welt verbessern wollte. Aber er war kein Typ wie etwa Amiri Baraka, der sich gern mit Verve in oft sehr radikale neue Bewegungen und Auseinandersetzungen stürzte, seine Position ebenso oft zuspitzte wie dann wieder aufgab, der Beatnik, Maoist, Muslim oder Panafrikanist wurde und – auch anders als Baldwin – in den großen Traditionen afroamerikanischer Musik- und Performance-Kultur nicht nur ein seelisch-kulturelles Reservoir, eine tiefe Ressource sah (wie Baldwin), sondern auch ein aktuelles Tool im Kampf.

René Aguigah: „James Bald­win – Der Zeuge“. Beck Verlag, München 2024. 233 Seiten, 24 Euro

Während Baraka in die Free-Jazz-Entwicklung verwickelt war und Schwarze Theater und Zeitschriften gründete, hörte man bei Baldwin zu Hause das Modern Jazz Quartett oder Louis Armstrong – allerdings auch Nina Simone. Baldwin lernte den jungen Baraka kennen und schätzen, noch als Studenten, der unter dem Namen LeRoi Jones Gedichte und Theaterstücke schrieb. In den 60ern brach Baraka mit Baldwin, den er beleidigte und dem er den ungerechten Vorwurf machte, pro weiß zu schreiben. In den 80ern, als auch Baldwin wieder skeptischer gegenüber der Lernkapazität der weißen Bevölkerung geworden war, haben sich beide wieder freundschaftlich angenähert. Bei Baldwins Beerdigung hält Baraka eine feurige Rede auf den Älteren.

Bei Aguigah kommt Baraka nicht vor, Baldwins Konflikte mit Jüngeren und Radikaleren erscheinen eher als die Debatte eines Einzelnen mit den nachwachsenden Bewegungen. Dabei legt er nahe, dass Baldwins differenzierte Auseinandersetzung mit der Nation Of Islam (NOI) vorbildlich für heutige Streits mit „Identitätspolitik“ sein könne. Das stellt, denke ich, den so bezeichneten Aktivismen der Gegenwart ein zu pathologisches Zeugnis aus. Niemand vertritt heute den Unsinn, aus dem die politische Theologie der NOI bestand. Umgekehrt kommt die Black Panther Party zu schlecht weg, wenn Aguigah dem späten Baldwin etwas mehr Distanz zu der Partei empfiehlt, die für einige Schießereien, an denen sie beteiligt war, doch eine gewisse Mitschuld trage.

Dabei war die vielfach zerstrittene und gespaltene Partei, die im Laufe ihrer Geschichte ein Spek­trum zwischen dem irrlichternden Linksradikalismus eines Eld­ridge Cleaver und der eher bieder sozialdemokratischen Lokalpolitik des späten Bobby Seale in Oak­land umfasste, genau die marxistisch-internationalistische Alternative zum religiösen Wahn der NOI und damit ein Fortschritt, an dem Baldwin nicht vorbeikam. Es reichte nicht, Stokeley Carmichael als Romanfigur auftreten zu lassen.

Doch diese Pendelbewegungen zwischen den Polen eines kritischen, niemals naiven („Wer will in ein brennendes Haus integriert werden?“), aber in letzter Instanz optimistischen Integrationismus und einem Pessimismus, der auch in der Separation nicht ernsthaft eine Lösung sehen kann, nimmt bei Baldwin, der keine der beiden Positionen verabsolutiert hat, oft eine dialektische Wendung: Die Bitterkeit des enttäuschten Pessimismus wird dann gerade zum Elixir der Hoffnung, denn nur wer ihren Geschmack kostet, kann ihre Ursache überwinden.

Zum Glück ist er in der Belletristik nicht mehr so allein wie damals

Dass Baldwin, der der unumstrittene Poet der sogenannten Bürgerrechtsbewegung (die er lieber „Sklavenaufstand“ nannte) war, später von einer jüngeren radikaleren afroamerikanischen Intelligenz als überholt durchgewunken wurde, wird bei Aguigah auch in die Diagnose einer gewissen stilistischen Disziplinlosigkeit (oder Transdisziplinarität) bei Baldwin eingefügt. Seine Romane kippten ins Argumentative und Essayhafte, seine argumentierenden Essays würden immer wieder sehr persönlich. Damit konnten weder die genrefixierte größere Öffentlichkeit noch an Differenzierungen desinteressierte Radikale umgehen.

Natürlich korrespondieren gerade diese Eigenheiten mit Baldwins Claim, als Schreibender eben nichts von vornherein genau zu wissen. Sein Existenzialismus fordert einen Experimentalismus – keinen Avantgardismus wie etwa bei Baraka, aber ein offenes Kunstwerk, weniger aus ästhetischen als aus ethischen Gründen, aber nicht minder radikal.

Diesen Baldwin legt uns Agui­gah optimal zurecht. Die in dichter Folge bei dtv erschienenen neuen Übersetzungen durch Miriam Mandelkow vervollständigen den runden Geburtstag, den James Baldwin am 2. August begeht. Er war schon mal der bekannteste afroamerikanische Autor in der alten BRD, zum Glück ist er in der Belletristik schon lange nicht mehr so allein wie damals in den 1970ern. Was die afroamerikanische Essayistik und Geisteswissenschaft betrifft, fehlt noch immer sehr viel. Und auch Baldwins Essays liegen bei mir zum größeren Teil in langsam zerfallenden Ausgaben der lange vergessenen Rowohlt-Reihe „das neue buch“ vor.