Der Geist der zukünftigen Wahl

Deutsche Parteien versuchen besonders auf Tiktok, junge Menschen für sich zu gewinnen. Dabei übersehen sie: Große Teile dieser Zielgruppe nutzen Snapchat. Diese App hat enormes Potenzial

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Von Martin Seng

Die demokratischen Parteien in Deutschland haben die sozialen Medien verschlafen. Anfangs taten sie die Plattformen als Randerscheinung ab. Erst als sie dann merkten, dass Facebook, X (damals noch Twitter) und Instagram nicht mehr wegzudenken waren, kam Bewegung in ihre digitale Öffentlichkeitsarbeit: zu zögerlich, zu zaghaft und zu spät. Das Ergebnis dieser ängstlichen Trägheit zeigt sich auf Tiktok. Die in Teilen rechtsextreme AfD ist dort stärkste Kraft. Ihre populistischen Videos gegen die Grünen, Migration, öffentlich-rechtliche Medien sammeln Millionen von Likes.

Seit Ende 2023 versuchen die demokratischen Parteien, der Reichweite der AfD etwas entgegenzusetzen, verstärken deswegen massiv ihre Präsenz auf Tiktok. Aufmerksam blicken Öffentlichkeit und Politik auf die chinesische App. Andere soziale Medien verlassen dabei teilweise das Sichtfeld. Ein Kandidat für diese Unachtsamkeit der Politik: Snapchat.

Laut der ARD/ZDF-Onlinestudie 2023 liegt die US-App Snapchat bei der Social-Media-Nutzung der 14- bis 29-Jährigen auf dem zweiten Platz. 37 Prozent der Altersgruppe nutzten Snapchat täglich. „Das alles macht sie zu einer relevanten Größe für die Politik, von daher wundert mich die aktuelle politische Abstinenz sehr“, so der Social-Media-Experte und Politikberater Martin Fuchs. „Auch wenn die Politik aktuell nicht über Snapchat redet, gehört die App weiterhin zu den meist genutzten Social-Media-Apps in Deutschland. Im Schatten der großen Plattformen nutzen mittlerweile 15 Millionen Deutsche die App mindestens einmal monatlich.“ Fuchs beobachtet das Auftreten der Parteien auf allen relevanten Plattformen. Doch Auftritte auf Snapchat sieht er keine: „Die App spielt im Jahr 2024 in Deutschland überhaupt keine Rolle mehr für die politische Kommunikation. Alle relevanten politischen Ak­teu­r:in­nen haben sich mittlerweile von der Plattform verabschiedet.“ 2015 habe das anders ausgesehen. „Damals gab es einen ähnlichen Hype um Snapchat wie heute um Tiktok.“

Die Funktionen, die Charaktere von Snapchat und Tiktok unterscheiden sich stark. 34 Millionen kurze Videos laden Menschen täglich auf Tiktok hoch. Musikvideos, Schminktipps, politische Propaganda, alles ist vertreten. Und nahezu alles ist öffentlich. Snapchat hingegen ist ein Instant Messenger. Ähnlich wie bei Whatsapp oder Telegram können Use­r:in­nen Nachrichten, Bilder und Videos direkt mit anderen Menschen teilen. Das macht Snapchat persönlicher. Gleichzeitig können Nut­ze­r:in­nen andere User:innen, darunter auch Prominente, abonnieren und im Alltag verfolgen. Snapchat wandelt zwischen privatem und öffentlichem Raum.

Die App mit dem kleinen Geist als Logo ist inzwischen eine Spielwiese mit vielen Funktionen geworden. Videos können mit Filtern und Linsen verfremdet werden. Plötzlich hat das eigene Gesicht Hasenohren oder einen üppigen Bartwuchs. Oder man ändert gleich den gesamten Hintergrund. Denn mit „Snap AR“, einer Augmented-Reality-Funktion, kann nahezu alles in die Welt hineinprojiziert werden, die man durch die Kamera sieht. Plötzlich hängt eine riesige Discokugel oder eine zweite Sonne in den Wolken oder ein Krokodil beißt einem in den Fuß.

Gerade in „Snap AR“ sieht Martin Fuchs enormes Potential für die Politik: „Dadurch könnte man sich in politische Räume beamen oder kreativ mit politischen Inhalten interagieren. Politik kann durch die Linsen und Filter von Snapchat eine bessere virtuelle Nähe zu politischen Ak­teu­r:in­nen herstellen.“

Wie eine solche Kommunikation geht, zeigt die AR-Linse von „PlasticGate“. Sie soll auf Plastikmüll aufmerksam machen, indem sie den Kunststoff direkt in das eigene Wohnzimmer projiziert oder das Brandenburger Tor in einen großen Haufen Plastikmüll verwandelt. Diese Funktion lässt sich weiterdenken. Eine von Autos überfüllte Innenstadt könnte sich durch eine Linse in eine grüne Metropole mit Fahrradwegen wandeln. „Snap AR“ könnte auch verdeutlichen, wie ein barrierefreier Zugang oder ein neues Bauprojekt einmal aussehen werden. Po­li­ti­ke­r:in­nen könnten ihre Projekte mit „Snap AR“ visualisieren und der Öffentlichkeit präsentieren. Fuchs ist sich sicher, dass „das Thema Augmented Reality in den nächsten Jahren auch auf anderen Plattformen noch größer wird. Und Snapchat ist hier schon länger vorne mit dabei und sehr gut aufgestellt.“

Wenn die Politik diese Kommunikation auf Snapchat umsetzt, ist es durchaus möglich, dass sie damit auch andere Apps beeinflusst. Denn Snapchat hat in den sozialen Medien eine Art Vorreiterrolle. In den 2010er Jahren trug der Messengerdienst maßgeblich dazu bei, die sozialen Medien vom Desktop auf die Mobiltelefone zu bringen. Und bis heute orientieren sich viele Programme am Pionier, der sich anfangs nicht auf den Aufbau einer Marke konzentrierte, sondern auf Funktionen. Lange vor den „Stories“ auf Instagram gab es etwa bei Snapchat bereits „My Story“. Inzwischen hat nahezu jede Social-Media-Plattform ein Äquivalent und auch Whatsapp übernahm viele Funktionen für sich.

Doch trotz der Potenziale gleicht die App politisch einer Wüste. Die deutschsprachige Politik hat sich, bis auf einzelne grüne Po­li­ti­ke­r:in­nen aus der Schweiz und Österreich, nahezu komplett von Snapchat zurückgezogen. Einstige große Accounts wie der des früheren CDU-Politikers Peter Tauber oder der Partei Die Linke sucht man inzwischen vergebens. Selbst Markus Söder fehlt, der sonst doch soziale Medien so gerne nutzt. Immerhin: Es gibt eine Linse, mit dem jedes Gesicht zu dem des bayerischen Ministerpräsidenten wird.

Der Abzug der Politik ist verblüffend, hatte sie doch die Möglichkeiten der App schon in den 2010er Jahren erkannt. Im Mai 2015 unternahm das Europäische Parlament erste Gehversuche auf Snapchat. Um junge Wäh­le­r:in­nen anzusprechen, startete das Parlament auch für die Europawahl 2019 eine große Kampagne mit dem US-Unternehmen. Die App erinnerte die Use­r:in­nen an die Wahlen und leitete sie zu externen Infoseiten. Wenn man sich mit der Wahl beschäftigte, bekam der Bitmoji, ein Avatar, den jede Nut­ze­r:in von sich erstellt, einen „I voted“-Button. 2024 hatte das Parlament keine Kooperation mit Snapchat. Die App wurde nicht einmal mehr unter den aktiven Kanälen aufgezählt. Die Parteien zeigen sich primär auf Instagram und Tiktok. Anderen Plattformen wird der Rücken gekehrt.

Die Wäh­le­r:in­nen von heute und morgen sind nicht nur auf einer App unterwegs, sondern auf mehreren. Und sie alle haben eigene Ausdrucksformen, Ansprachen, Vorteile

Wenn De­mo­kra­t:in­nen in einem sozialen Medium fehlen, freut das Extremist:innen. Aber trotz der Schnelllebigkeit in den sozialen Medien dauert es lange, bis Räume zurückerobert werden. Das erfahren SPD, Grüne und Co gerade bei Tiktok. Diese Erkenntnis sollte sie eigentlich dazu animieren, reichweitenstarke Plattformen wie Snapchat nicht zu vernachlässigen.

Auf Anfrage der taz, warum die FDP nicht auf Snapchat agiert, sagt sie nur: „Demokratische Stimmen dürfen das mediale Feld nicht den Extremisten und Populisten überlassen – sowohl in der analogen wie auch der digitalen Welt.“ Die Pressestelle der SPD sagt zu ihrer Inaktivität auf Snapchat: „Unsere Ressourcen sind natürlich begrenzt, insofern ist die Entscheidung für einen bestimmten Kanal regelmäßig auch immer die gegen einen anderen. Als Snapchat vor einigen Jahren verstärkt im Kontext politischer Kommunikation diskutiert wurde, haben wir es als relevanter eingeschätzt, zunächst das Engagement bei Instagram weiter auszubauen.“

Von millionenschweren Parteien mit einem riesigen Personalapparat ist es sicherlich nicht zu viel verlangt, eine Präsenz auf allen relevanten Kanälen zu haben. Snapchat bietet mit seinen Funktionen Platz für innovative und immersive Formate, die Politik nahbar und transparenter machen können. Die Wäh­le­r:in­nen von heute und morgen sind nicht nur auf einer App unterwegs, sondern auf mehreren. Und sie alle haben eigene Ausdrucksformen, Ansprachen, Vorteile. Die politische Arbeit muss daher endlich so vielfältig werden wie die moderne Mediennutzung.