Die Gesellschaft hat mich korrumpiert

Lateinamerika leidet an allem außer an seiner Musik. Das beweist „Mi Latinoamérica sufre“, das neue Album der kolumbianischen Neotropicalistas Meridian Brothers

Die Meridian Brothers und eine Sister, Eblis Álvarez ist der Mann links außen Foto: Perla Hernandez

Von Detlef Diederichsen

Es ist ein schöner und viel zu selten angewandter kompositorischer Kniff, finstere und deprimierende Texte in dezidiert heitere und lebensbejahende Musik zu kleiden. Die Wirkung ist verblüffend: Vielleicht muss man angesichts der niederschmetternden Weltlage doch nicht den Kopf in die Mikrowelle stecken? Vielleicht muss man noch nicht mal mithilfe legaler oder illegaler chemischer Fluchthelfer die o. a. Weltlage aus seinem Leben aussperren? Vielleicht lässt sich alles irgendwie … aushalten?

Es steht nicht gut um Südamerika. Wir sehen und hören das aus den Nachrichten: Argentinien! Bolivien! Kolumbien … Kolumbien? Trotz oder ungerührt von all den teilweise jahrhundertealten Konfliktlinien in der kolumbianischen Gesellschaft hat sich hier eine reichhaltige Musikkultur entwickelt, wie sie auf dem Kontinent höchstens in Brasilien ihresgleichen findet. Spielerisch und lustvoll werden immer wieder Stilistiken aus unterschiedlichen Landesteilen und unterschiedlichen Alters miteinander verwirbelt, mit internationalen Ideen verglichen und angereichert und je nach Abenteuerlust und Agenda der Prot­ago­nis­t*in­nen wird daraus Pop, Club oder Avantgarde.

All das und mehr findet sich im Œuvre von Eblis Álvarez. Der 1977 geborene Komponist und Multiinstrumentalist studierte Komposition und klassische Gitarre an der Javeriana-­Universität in Bogotá, anschließend Komposition und Elektronische Musik am Kongelige Danske Musikkonservatorium in Kopenhagen und vertiefte seine Kenntnisse der Musikproduktion am Danish Institute for Electronic Music in Aarhus. Seit den Teenagerjahren ist er in unterschiedlichen musikalischen Disziplinen tätig: Álvarez komponiert zeitgenössische Kammermusik, für die er gleich zweimal – 2003 und 2010 – mit dem Premio Nacional de Composición des kolumbianischen Kulturministeriums ausgezeichnet wurde, spielt traditionelle Cumbias, Vallenatos und Porros in verschiedenen Formationen, ist ein vorzüglicher Salsa-Tänzer, sieht sich selbst aber auch als „Metalhead“.

Zu Beginn des Jahrtausends konstituierte sich in Bogotá eine Kulturszene, die sich als „Neotropicalistas“ bezeichneten, in Anlehnung an den brasilianischen Tropicalismo der späten 1960er Jahre. Beide Bewegungen waren für alle künstlerischen Disziplinen offen, brachten Musik, Malerei, Film, Performance, Fotografie und Poe­sie miteinander in Verbindung. Als vielseitig interessierter und aktiver Kopf wurde Eblis Álvarez schnell eine der Hauptfiguren der Neotropicalistas. Bereits 1998 hatte er das Projekt Meridian Brothers ins Leben gerufen – keine Band, sondern ein Vehikel für seine eigenen Schlafzimmer-Produktionen. Als Neotropicalist gründete er mit einigen Kommilitonen der Javeriana das Ensamble Polifónico Vallenato und das Sexteto La Constelación de Colombia, quasi zwei Forschungsprojekte, die sich in die Jahre gekommene und oft unter musikindustriellen Anforderungen trivialisierte traditionelle kolumbianische Stile aus dem Blickwinkel von Black Metal, Noise und Zwölftonmusik zurückeroberten.

2006 erschien das Debütalbum Meridian Brothers: „El advenimiento del castillo mujer“. 2007 stellte Álvarez eine Live-Besetzung zusammen, die allerdings auf den nun regelmäßig fast jährlich veröffentlichten Alben nicht zu hören ist. Inhaltlich sind die Meridian Brothers fast eine Fortführung des Ensamble-Polifónico-Projekts und gehen auf ältere Stilistiken meist ländlichen Ursprungs, meist schon lange musikindustriell eingehegt, mit bilderstürmerischer Wildheit, dem Musikverständnis eines in Musikwissenschaft, Musikgeschichte und Pop-Coolness bestens bewanderten und von seiner persönlichen Biografie vor allem in der Avantgarde zu verortenden Nerds drauflos.

Dabei sieht sich Álvarez nicht als Schöpfer, sondern als Kurator: „Wir können ja kulturell nichts Neues mehr entwickeln“, verriet er dem Online-Musikmagazin The Quietus. „Es ist nicht mehr wie im letzten Jahrhundert, als die Gesellschaften noch mehr isoliert waren und Menschen ihr Unterbewusstes und ihre Vorstellungskraft nutzen konnten, um etwas Neues zu erschaffen. Heute geht das nicht mehr. Das liegt nicht daran, dass wir weniger fähig oder intelligent wären. Es liegt daran, dass wir angefüllt sind mit dem Lärm der Information. Also muss ich mir als Künstler einen anderen Ansatz suchen und das ist bei mir der des Kurators. Ich habe Platten, ich nutze Dateien und Webseiten und suche mir das, was ich benutzen möchte. Und dann ist es fast wie ein Rollenspiel: Ich suche mir für jedes Album eine andere Rolle.“

Auf „Mi Latinoamérica sufre“ (Mein Lateinamerika leidet), dem zwölften Meridian-Brothers-­Album, ist er ein typischer Sinnsucher, der sich fragt, wo all das Leid herkommt, das er überall in Lateinamerika vorfindet, wer dafür verantwortlich ist und wie man es bekämpft. Er sucht die Wahrheit in der Politik, in Drogen, schließlich in den uralten Traditionen der Anden und kommt am Ende in einer Mischung aus Resignation und Selbstzufriedenheit doch nur zu dem Schluss: „Nazco bueno y la sociedad me corrompe“ (Ich kam gut zur Welt und die Gesellschaft hat mich korrumpiert).

Musikalisch ist diese Selbstfindungsreise durch den Kontinent ein großer Spaß. Was zunächst klingt wie ein wuseliger Ameisenhaufen, in dem alles scheinbar planlos durcheinanderwirbelt, offenbart bei näherem Hinhören, dass doch jedes Subjekt, hier also jedes Instrument bzw. jede Tonspur für sich eine ganz klare Agenda hat. Neben einem überbordenden rhythmischen Reichtum hat das Album vor allem viel E-Gitarre, aber konsequent gegen den Strich gespielte, mitunter geradezu brutal dekonstruierte E-Gitarre: Mal klingt es nach Surf-Gitarre auf falscher Geschwindigkeit, mal nach Congolese Rumba, aber streng mathema­tisch komponiert von dem Player-Piano-Avantgardisten Conlon Nancarrow. Mal denkt man, Álvarez habe Gummibänder statt Saiten aufgezogen. Im Hintergrund quäken, fiepen und jaulen einige Prachtexemplare aus seiner Sammlung prähistorischer elektronischer Keyboards.

Musikalisch ist diese Reise zur Selbstfindung durch den Kontinent ein großer Spaß

Dazu singt er mit unterschiedlichen Stimmen, mal begeistert, mal aggressiv, mal selbstmitleidig jammernd, je nach Seelenlage seines Protagonisten.

Für Álvarez hat dieser grotesk überdrehte Spaß allerdings einen ernsten, globalisierungskritischen Hintergrund: „Für mich ist die Globalisierung diese gefakte Einheit der Menschheit, die von Regierungen und Ideologie vorangetrieben wird“, sagte er dem Webradio und -Magazin Afropop Worldwide. „Es heißt, wir würden so in eine neue Ära des Friedens eintreten, aber letztlich sind es nur Institutionen, die zusammenkommen, während sich die Menschen weiterhin überall bekämpfen. Den Schaden, den die Globalisierung anrichtet, kann man hier in Kolumbien sehr gut sehen: Die Ökonomie ist zugrunde gerichtet, in ganz Lateinamerika ist sie das, in Afrika auch.“

Um dieser Entwicklung entgegenzutreten, müsse man sich der kulturellen Homogenisierung entziehen und seine eigenen Techniken entwickeln. „Wenn wir andere, eigene Dinge machen, wird es für diese Mächte schwerer, uns zu beherrschen. Letztlich ist es Selbstverteidigung, wir müssen immer wieder neue kulturelle Information erschaffen, die sie erst wieder neu verstehen und erlernen müssen.“

Meridian Brothers: „Mi Latinoamérica sufre“ (Ansonia/Bongo Joe/Indigo)