„Orbán wollte die EU von Anfang an trollen“

Luca Soltész vom europäischen Thinktank Visegrad Insight glaubt, dass die EU mit ihrer Strategie des Boykotts wenig bei Orbán ausrichten kann – und ihr Spielraum ist klein

Orbán beklatscht sich selbst – wenn andere es schon nicht tun Foto: Denes Erdos/AP/dpa

Interview Florian Bayer

taz: Frau Soltész, zum Treffen der Innen- und Justizminister der EU in Budapest haben einige Mitgliedsländer nur hohe Beamte anstelle ihrer Minister geschickt. Sie wollen damit ihren Unmut über die Führung des ungarischen Ratsvorsitzes zeigen. Josep Borrell, der scheidende EU-Außenbevollmächtigte, will nun gar ein informelles Außenministertreffen nach Brüssel verlegen. Beeindruckt das den ungarischen Premier Viktor Orbán?

Luca Flóra Soltész: Orbáns Fidesz versteht es, die Kritik für sich zu nutzen. „Wir sind die eigentlichen Guten, während uns die liberalen Kriegstreiber aus Brüssel nur blockieren“, lautet die Botschaft. Orbán wird sich von diesen Reaktionen nicht beirren lassen.

Orbán hat die ganze EU brüskiert, indem er den ungarischen Ratsvorsitz mit Besuchen bei Wladimir Putin, Xi Jinping und Donald Trump einläutete. Hätten die EU-Spitzen und Staatschefs nicht schon im Vorfeld mit derartigen Aktionen rechnen müssen?

Viele Staatschefs dachten, Orbán werde den Vorsitz pragmatisch und kompromissbereit anlegen – um zu zeigen, dass er trotz aller Kritik von Seiten der EU in Bezug auf Korruption und fehlende Rechtsstaatlichkeit in Ungarn zu einer einwandfreien Vorsitzführung imstande ist. Wie sich nun herausstellte, wollte er die EU von Anfang an trollen. Vielleicht zeigt er so auch seinen Unmut darüber, dass die Kommissions-Spitzenposten aus Orbáns Sicht an die falschen Leute gingen.

Orbán hat die eben erst wiedergewählte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen heftig für die vergangenen fünf Jahre kritisiert. Zum Boykott hat er sich jedoch noch nicht geäußert. Er wartet vermutlich ab, was weiter passieren wird. Es war ja noch nicht klar, welche Staaten sich am Boykott beteiligen werden. Offen ist, ob sich noch weitere anschließen werden.

Die Frage nach einem Boykott spaltet die EU-Mitglieder. Hat Orbán diese Spaltung bewusst bezweckt oder ist sie ein Kollateralschaden, den er gern in Kauf nimmt?

Das ist wohl Absicht. Orbáns Fidesz wurde ja 2021 aus der Europäischen Volkspartei ausgeschlossen und ist nun Teil einer eigenen Fraktion (Patrioten für Europa, Anm. d. Red.). Orbán will weiter an seinem Netzwerk bauen und schauen, welche Staaten ihm die Treue halten, wie weit er gehen kann. Vielleicht will er damit auch Russland gefallen.

Verfängt das bei den Ungarinnen und Ungarn?

Seine vermeintliche „Friedensmission“ war reine PR, weil er bei den Europawahlen in Ungarn und den ungarischen Kommunalwahlen schlechter abgeschnitten hat als erhofft. Die Inflation in Ungarn ist hoch, die wirtschaftliche Situation düster. Orbán will zeigen, dass er politisches Gewicht hat, dass er im Alleingang diese Führungsfiguren treffen kann. Seine Wähler finden das gut, die anderen sind ihm ohnehin egal. Er will seine Basis bei der Stange halten.

Werden die Boykotte etwas verändern?

Foto: Privat

Luca Flóra Soltész

ist Junior Fellow und Politikanalystin am europäischen Thinktank „Visegrad Insight“. Ihr Schwerpunkt ist die ungarische Regionalpolitik.

Ich denke nicht, dass er sein Verhalten ändern wird. Er wird es nur langsamer angehen lassen, denn er kann nicht jede Woche Putin oder Xi Jinping treffen. Ich wäre nicht überrascht, wenn er etwa Belarus besucht, das sich jetzt gegenüber der EU ein wenig öffnen will.

Wie könnte die EU jenseits des Boykotts dieser informellen Treffen gegen Orbáns Vorsitzführung tun?

Sie kann formelle Treffen absagen oder boykottieren, was teilweise ja schon geschieht. Sonst gibt es aber nicht viel Spielraum. Es ist unwahrscheinlich, dass Ungarn die Stimmrechte entzogen werden oder dass die Präsidentschaft vorzeitig beendet wird.

Warum?

Die EU reagiert auf die von ihm als „Friedensmission“ bezeichnete Rundreise von Victor Orbán, bei der er Russlands Präsident Wladimir Putin, Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping und Ex-US-Präsident Donald Trump besuchte. Erste Konsequenz der EU: Man werde keine Kommissare zu den informellen Treffen von Ungarns Ratspräsidentschaft schicken, sondern nur ranghohe Beamte. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell kündigte außerdem an, dass zukünftige Treffen, die in Budapest geplant waren, in der Zukunft in Brüssel stattfinden sollen. Die Entscheidung dazu traf der Spanier im Alleingang, nachdem eine Debatte mit den EU-Außenminister*innen ergebnislos blieben war. Nach Borrells Angaben verurteilten 25 Außenminister Orbáns Verhalten, lediglich aus der Slowakei kam Unterstützung. Viele kritisierten dennoch ein Boykott des Treffens. Ungarn hatte den halbjährig wechselnden Ratsvorsitz der EU erst Anfang Juli übernommen.

Es könnte für die EU nach hinten losgehen. Ungarn ist nicht allein in seinem „Kampf“, die Patrioten für Europa sind drittstärkste Kraft im EU-Parlament. Außerdem könnten die Beziehungen zu einer möglichen nächsten Trump-Regierung und zu China beeinträchtigt werden, wenn die EU Orbán zu hart sanktioniert. Orbán hat viel mehr Einfluss als früher.

Handelt Orbán überhaupt rational? Er ist schließlich weiterhin auf gute Beziehungen zur EU angewiesen. Noch immer hält die EU Gelder für Ungarn in Milliardenhöhe zurück. Wahlen stehen auch keine an.

Vielleicht hat er aufgegeben, an die Gelder zu kommen und greift die EU deshalb frontal an. Ungarn müsste vorher erst Reformen umsetzen. Auch wenn er durch seine Unterstützung eines Ukraine-Hilfspakets Aufschub bekam: Die Zeit dafür wird knapp. Es sei denn, er arbeitet wieder mit Erpressungstaktiken.