Kein anderer Weg

An vollen Bürgerrechten für die Palästinenser – in einem oder in zwei Staaten – ist kein Vorbeikommen. Die internationale Bühne muss mit vereinter Kraft darauf hinwirken

Illustration: Katja Gendikova

Von Raja Shehadeh

Die späten 1980er und frühen 1990er Jahre waren eine Zeit der Hoffnung. Der Kalte Krieg schien vorbei zu sein. Im Sommer 1987 sang David Bowie an der Berliner Mauer, und es war, als bereitete er damit den Weg für das vor, was zwei Jahre später dort geschehen sollte. Am 9. November ab Mitternacht konnten die Bürger der DDR die Grenzen frei überschreiten. Die Mauer war gefallen.

In Südafrika vollzog sich in derselben Zeit eine ähnlich positive Wende, die in den Wahlen vom 27. April 1994 gipfelte, an denen alle Südafrikaner – unabhängig von ihrer Hautfarbe oder Herkunft – teilnehmen durften. Als Südafrika das Bevölkerungsregistrierungsgesetz aufhob, das weiten Teilen der Bevölkerung aufgrund ihrer Rasse ihre Rechte abgesprochen hatte, wurde das Apartheidsystem effektiv beendet.

Warum haben solche Hoffnung schürenden Ereignisse, die langjährigen Ungerechtigkeiten ein Ende gemacht hatten, die israelische Regierung nicht dazu bewogen, die Besetzung der palästinensischen Gebiete zu beenden und einen dauerhaften Frieden zwischen Palästinensern und Israelis herbeizuführen? Warum setzte sich die Welt nicht mit aller Kraft dafür ein? Und welche Rolle könnte der Krieg im Gazastreifen, der einen schrecklichen menschlichen Tribut forderte, für den Beginn einer globalen Veränderung spielen?

Wenn ich in der Vergangenheit meine eher links orientierten israelischen Freunde fragte, warum das Ende der Apartheid in Südafrika keine Inspiration für die Israelis sei, erhielt ich zwei unterschiedliche Antworten. Die erste war, dass die Weißen in Südafrika verloren haben, die Israelis aber nicht. Irritierend, denn diese Denkweise setzte das Ende weißer Vorherrschaft mit einer Niederlage der weißen Bevölkerung gleich. In Wirklichkeit war es doch ein Sieg für beide Seiten. Die zweite, überzeugendere Antwort lautete, dass die Israelis ihre Situation in keiner Weise mit der Apartheid vergleichen würden und daher nicht der Meinung seien, dass sie eine ähnliche Lösung benötigten. Die eigentliche Antwort liegt indes auf der Hand.

1991 kam es mit der internationalen Friedenskonferenz in Madrid zu dem Versuch, die Konfliktparteien an einen Tisch zu bringen. Und diese Bemühungen führten im Oktober 1993 zur Unterzeichnung des Osloer Abkommens, das mit dem berühmten Händedruck von Israels Premierminister Jitzhak Rabin und dem Chef der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) Jassir Arafat auf dem Rasen des Weißen Hauses gefeiert wurde. Ein Ereignis, dass illusorische Hoffnungen weckte. Um den Unterschied zwischen der Sichtweise der Israelis und der der Palästinenser auf die Geschichte ihres Staats zu verstehen, müssen wir zu den prägenden Ereignissen von 1948 – dem Jahr der Gründung des Staats Israel – zurückgehen und über die Nakba (arabisch für Katastrophe) nachdenken, wie die Palästinenser die Ereignisse von damals nennen. In Israel hingegen spricht man in diesem Zusammenhang vom Unabhängigkeitskrieg. Das ist seltsam, denn es suggeriert, dass Israel seine Unabhängigkeit von den Briten erlangt hat. Es war jedoch Großbritannien selbst, das in der Balfour-Erklärung von 1917 den Juden das Land mit seiner mehrheitlich palästinensischen Bevölkerung versprach. In der Erklärung hieß es: „Die Regierung Seiner Majestät betrachtet die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina mit Wohlwollen […].“ Und es waren auch die Briten, die während des britischen Mandats über Palästina von 1922 bis 1948 darauf hinwirkten, die Gründung eines jüdischen Staats zu ermöglichen. Ich würde vermuten, dass der wahre Grund für diese Namensgebung darin liegt, dass die damalige israelische Führung bestrebt war, sich innerhalb der Gruppe der de­kolonisierten Nationen zu positionieren.

Wie lässt sich heute, fast drei Jahrzehnte nach der Unterzeichnung der Osloer Abkommen, die Situation beschreiben? Nach mehr als 50 Jahren hartnäckiger Versuche Israels, der Welt zu vermitteln, dass es sich bei seinem Status in den besetzten Gebieten nicht um den eines Besatzers, sondern um die Erfüllung des Wunsches des Allmächtigen handelt, nennt die Welt mittlerweile immerhin das Kind beim Namen – nämlich Besatzung, wie die Aussagen vieler Nationen bei den Anhörungen des Internationalen Gerichtshofs (IGH) im Februar 2024 zeigen. Dies betrifft alle 1967 von Israel besetzten Gebiete, einschließlich Ostjerusalem. Die israelischen Siedlungen im Westjordanland und im Osten Jerusalems werden weiterhin als illegal bezeichnet.

Der Niedergang der Linken in Israel und die ausgedehnten israelischen Siedlungen, die durch einen massiven Zustrom von Geldern aus den USA ermöglicht wurden, haben nun einen Wahlblock von Siedlern hervorgebracht, der es für jede is­rae­lische Regierung politisch unmöglich machen würde, sich aus den besetzten Gebieten zurückzuziehen. Doch wenn Israel dies nicht tut, wird das Land immer weiter nach rechts rücken und könnte sich letztlich zu einem offen faschistischen, rassistischen Staat entwickeln. Wenn Israel das verhindern will und wenn es nicht weiterhin beschuldigt werden will, ein Apartheidregime zu führen, dann wird es schlussendlich das tun müssen, was Südafrika getan hat, nämlich allen Menschen, die im Gebiet von Großisrael, dem historischen Palästina, leben, das Wahlrecht zu geben. Auf diese Weise könnte in Israel und Palästina ein einziger demokratischer, säkularer, also nicht länger jüdischer Staat errichtet werden.

Gegenwärtig ähnelt die Beziehung Israels zu den palästinensischen Gebieten eher Kolonialismus als Besatzung. Besatzung ist eine vorübergehende, militärische Kontrolle außerhalb der souveränen Grenzen des Staats. Die Kontrolle der jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten ist zivil und in den Augen von Politik und Gesellschaft von Dauer. Im Westjordanland leben heute über 600.000 israelische Bürger. Israel kontrolliert die Ein- und Ausreise, Zölle und Steuern, den Tourismus, den Handel und sogar die Registrierung von Geburten und Todesfällen in diesen Gebieten.

Foto: privat

ist 1951 in Beirut geboren, Schriftsteller und Menschenrechtsaktivist. Mitte August erscheint im Westend Verlag sein neues Buch „Was befürchtet Israel von Palästina?“.

Im Westjordanland leben zwei Gemeinschaften – israelische Juden und palästinensische Araber – Seite an Seite und unterliegen unterschiedlichen Gesetzen und Rechtssystemen. Der beeindruckende wirtschaftliche Wohlstand Israels hat enorme Ressourcen vor allem zugunsten der jüdischen Bevölkerung auf beide Seiten der Grünen Linie gepumpt. Dies hat den Prozess der „getrennten Entwicklung“, der für Apartheidregime charakteristisch ist, noch verschärft. Diese Prozesse führten zur Schaffung verschiedener Arten von Staatsbürgerschaften, die wiederum an Südafrika in der Vergangenheit erinnern: Juden zwischen Jordan und Mittelmeer sind „weiße“ Bürger, Palästinenser in den besetzten Gebieten haben eine „schwarze“ Staatsbürgerschaft ohne politische Rechte.

Die sehr hohen menschlichen und materiellen Kosten des gegenwärtigen Kriegs in Gaza beweisen letztlich, dass das, was Israel von Palästina befürchtet, die Existenz Palästinas selbst ist. Was wäre aber, wenn dieser Krieg nicht mit einer Waffenruhe oder einem Waffenstillstand enden würde, sondern mit einer umfassenden Lösung des jahrhundertealten Konflikts zwischen dem palästinensischen und dem israelischen Volk?

Wenige Wochen nach Beginn der Besatzung im Jahr 1967 schlug mein Vater, Aziz Shehadeh, die Gründung eines palästinensischen Staats an der Seite Israels entlang der Teilungsgrenzen von 1947 mit einer Hauptstadt in Jerusalem sowie Verhandlungen über alle anderen noch offenen Fragen vor. Heute, fast 57 Jahre später, herrscht nahezu Konsens darüber, dass es nur dann Frieden in der Region geben wird, wenn ein palästinensischer Staat gegründet wird.

Was wäre, wenn dieser Krieg nicht nur mit einer Waffenruhe enden würde, sondern mit einer umfassenden Lösung des Konflikts?

Wir können es uns nicht leisten, tatenlos zuzusehen. Es stimmt, dass die messianische religiöse Rechte in der israelischen Politik dominiert und dass die palästinensische Politik zersplittert ist und keine einheitliche Vision hat. Die Wahrscheinlichkeit, dass ohne Druck von außen ein Wandel von innen kommt, ist jedoch minimal. Es muss ein Mechanismus gefunden werden, der die USA nicht als einzigen Sponsor der nachfolgenden Verhandlungen belässt, denn sie sind keine neutrale Partei. Nicht zuletzt im Verfahren vor dem IGH haben die USA ihre Voreingenommenheit offenbart.

An den Verhandlungen müssen neben den USA auch andere Geldgeber, darunter die UN und der Globale Süden, beteiligt werden, um alle noch offenen Fragen zu erörtern: volle Anerkennung eines palästinensischen Staats, Flüchtlinge, Gefangene, Siedlungen und künftige Beziehungen zwischen Israel und Palästina. Die volle Kraft des internationalen Drucks ist erforderlich, um dies zu erreichen. Bleiben die USA der einzige Sponsor der Verhandlungen, werden diese scheitern.

Wenn es zu diesen Veränderungen kommt, wird das unermessliche Leid der Menschen im Gaza­streifen und das der israelischen Geiseln und ihrer Familien nicht umsonst gewesen sein. Für die Mehrheit der Palästinenser, die nicht der Hamas angehören; für die Israelis, die nur mit Bestürzung zusehen konnten, was ihre Regierung tat, ohne dem Grauen Einhalt gebieten zu können; für diejenigen unter uns, die mit unerschütterlicher Gewissheit davon ausgehen, dass die einzige Zukunft darin besteht, dass die beiden Völker zusammenleben – für sie mag die Zukunft düster erscheinen. Der Blick in die Geschichte der Region zeigt, dass nur nach großen Umwälzungen auch hoffnungsvolle Konsequenzen folgen. Die ­Madrider Friedenskonferenz fand schließlich auch nicht grundlos statt, sondern nach den schwierigen Jahren der Ersten Intifada.