Eine Zuggesellschaft

Berlin sei gar nicht der kosmopolitischste Ort des Landes, schreibt unsere Autorin. Sondern ein Regionalzug in Thüringen

Villa, unweit vom Bahnhof Fotos: Barbara Thériault

Aus Suhl Barbara Thériault

Es war am Mittwochabend um 21 Uhr 16. Der Regionalexpress 50 von Erfurt über Zella-Mehlis nach Mei­nin­gen wartete am Erfurter Hauptbahnhof. Junge Männer und vereinzelte Menschen mittleren Alters drückten sich in den engen Waggons zusammen.

Viele der Reisenden waren unterwegs in Richtung Thüringer Wald zur Erstaufnahmeeinrichtung. Es schienen keine Mitarbeiter einer vom Land beauftragten Sicherheitsfirma den Zug zu begleiten, wie es manchmal passiert. Ich drängte mich in die Menschenmasse hinein. Es duftete wie in einem Barbershop.

Ich fand einen Platz neben einem Mann: um die fünfzig, groß und sportlich, kurzes straßenköterblondes Haar, lokale Mundart. Eigentlich unauffällig, wäre da nicht das Buch mit grauem und blauem Einband, in dem er gerade las.

Im von Sitzen gebildeten Viererabteil des ­Großraumwaggons war auch ein junges Paar, das Ukrainisch sprach und auf Handys hantierte. Das Mädchen hörte laut Musik, ohne Kopfhörer. Das störte, aber wir unterdrückten jegliche Kommentare und Körperregungen. Ich sage „wir“, weil es sich so anfühlte, als ob der Mann an meiner Seite, die beiden Jugendlichen und ich eine Familie bildeten. Von außen mag es sogar so gewirkt haben: wie Eltern, die meinen, es mit Teenagern geduldig aushalten zu müssen.

Ich arbeitete am Laptop. Ich musste einen Artikel für die Lokalzeitung fertig schreiben. Es ging um eine Frau aus der Stadt, die in Deutschland als Ärztin viel geleistet hat, aber eine hohe Auszeichnung für ihr medizinisches Engagement in einem afrikanischen Land verliehen bekommen hatte. Trotz nahender Deadline konnte ich nicht umhin wahrzunehmen, was um mich herum passierte.

Links neben unserer „Familie“ saß noch ein Mann auf der anderen Gangseite. Er musste Mitte vierzig gewesen sein, deutschsprachig, hatte einen geschorenen Kopf und aufgepumpte Muskeln, die durch enge Jeans und T-Shirt deutlich zur Geltung kamen. Bevor der Zug aus dem Bahnhof rollte, nahmen noch zwei Männer bei ihm Platz. Der Durchtrainierte grüßte sie überraschenderweise mit „­Salam aleikum“, das etwas gleichgültig mit „­Aleikum ­salam“ erwidert wurde. Guck an, dachte ich, die Kultur der Barbershops hält Einzug in die Provinz. Mit ihrer coolen Lässigkeit ziehen die Barbershops an. Dort begegnen sich Männer, die sonst nicht ohne Weiteres zusammenkommen würden.

Der Muskelmann presste mit den Fingern ein Gerät, einen Handtrainer. Er schaute sich dabei Videos auf Whatsapp an, zum Teil laut. Es ging um Respekt. „Respekt, aber nicht vor den Mitreisenden“, erlaubte sich der Mann an meiner Seite einen Kommentar. Die Augen auf ihre Handys gerichtet, unterhielten sich die beiden Teenager bei laufender Musik. Einer der zwei auf Arabisch gegrüßten Männer fummelte mit leeren Bierdosen und Flaschen in einem Rucksack, es raschelte. Allerhand Sprachen waren zu hören, vor allem Arabisch, aber auch Kurdisch, Ukrainisch, sogar meine Muttersprache, was mich erfreute. Es herrschte ein fröhliches Durcheinander.

Du lässt mich gleich raus, ja?“, forderte der Durchtrainierte seinen Sitznachbarn später auf. Letzterer verstand wenig Deutsch, brabbelte etwas, wollte sich wohl über ein mögliches geteiltes Interesse und Berührungspunkte unterhalten: Fitnessstudios. Er erwähnte, dass er aus Tunesien komme, aber seine Geschichte wurde er nicht los.

Als sein Nachbar in Zella-Mehlis ausstieg, sprach ich den Mann auf Französisch an. Ich hörte mir seine Geschichte an. Er spulte ab, was er bestimmt immer erzählt: Er sei jung, lebe in der Erstaufnahmeeinrichtung, seine Aussichten seien nicht gut, er wolle bloß eine Chance bekommen. Er vertraue auf Gott. Eine traurige Geschichte, die dennoch fröhlich erzählt wurde.

Wir näherten uns dem Suhler Bahnhof. Der junge Tunesier wurde von einem Mitreisenden mit festem Handschlag und liebevollem Druck verabschiedet: „Mach’s gut, Habibi.“

Barbara Thériault stammt aus Montreal. Sie ist Autorin und Frisörin und lebt zurzeit in Thüringen. Als eine von drei „Über­land­schrei­be­rin­nen“ dokumentiert sie bis Ende August an dieser Stelle im Wechsel mit Tina Pruschmann und Manja Präkels ihre Reisen durch Ostdeutschland – ein Projekt der Uni Leipzig, finanziert von der VW Stiftung. Die Texte sind Teil unserer Berichterstattung zu den Wahlen 2024 in Brandenburg, Sachsen und Thüringen.

Bevor ich – zusammen mit den zwei Teenagern und mehreren jungen Männern – den Zug verließ, drehte ich mich zu meinem Sitznachbarn um und kommentierte hingerissen: „Ist das nicht der kosmopolitischste Ort überhaupt, viel mehr als Berlin?“

Er machte große Augen, mochte etwas sagen. „Ich fahre selten Zug,“ fing er an, sich zu erklären. „So was kenne ich nicht …“ – „Es ist nicht wie in der Berichterstattung oder in den Kommentarspalten dargestellt wird. Gestern war in einem Nachrichtenportal die Rede von ‚Angst-Zug‘ “, quatschte ich dazwischen. Als Frau habe ich überhaupt keine Angst.“ – „Ja“, sagte er weiter zögerlich, „aber manche vielleicht schon.“ – „Was lesen Sie?“, fragte ich unvermittelt und wies auf das Buch mit dem grauen und blauen Einband.

Der Zug fuhr schon in den Bahnhof ein. Ich musste los, er musste bleiben. Das war unsere Geschichte: Wir trafen zusammen, um auseinanderzugehen.

Am Bahnhof teilte sich die Zuggesellschaft. Der Junge aus Tunesien, der seine Chance haben will, und ich tauschten unsere Instagram-Accounts aus. Das Leben trennte uns an dieser Stelle, ihn brachte ein Bus weiter in den Wald am Rand der Stadt, mich meine Füße in die Altstadt.

Auf dem Bahnsteig in Suhl

Über so eine Zugfahrt berichtet die Lokalzeitung nicht – zumindest noch nicht. Die Zei­tungs­leser:innen, die von mir porträtierte ausgezeichnete Ärztin und die hiesigen Jour­na­lis­t:in­nen gehören zur Fraktion der Autofahrenden. Mit der Bahn fahren sie nicht und haben wenig Ansporn, es zu tun.

Normal unter Menschen

Wider Erwarten begegnete ich ein paar Tage später doch noch einmal zufällig dem Mann aus dem Zug, nicht dem einsamen Leser, sondern dem jüngeren Mann aus Tunesien, diesmal mitten im Wald. Ich war mit dem Fahrrad von der Lokalzeitungsredaktion, die ihren Sitz unweit der Erstaufnahmeeinrichtung im Wald hat, zu einem Termin in die Stadt unterwegs. Er ging allein zum Bahnhof, um nach Erfurt zu fahren. Dort wollte er sich auf dem Anger, am Domplatz oder an anderen Plätzen und öffentlichen Orten, deren Namen er sich nicht gemerkt hatte, aufhalten: die Stadtatmosphäre genießen, Freunde treffen, einfach normal unter Menschen sein und, wie ich später sah, Selfies auf Instagram posten.