Wasser als Waffe

Nach der Rückeroberung von Bergkarabach hat Aserbaidschan dort massiv in den Ausbau der Wasserkraft investiert. Mit welchem Kalkül?

Pittoresk: Klöster säumen die Ufer des Sevansees in Armenien. Die An­woh­ne­r befürchten, die Aserbaidschaner könnten versuchen, zu viel Wasser abzuzweigen Foto: Sergei Malgawko/TASS/dpa/picture alliance

Aus Jerewan Zuza Nazaruk

Im Mai erlebte Armenien einen der schwersten Stürme seit Jahrzehnten. Für gewöhnlich sei das Frühjahr nicht die Jahreszeit für Stürme, hatte man mir erzählt. Der heftige Regen, der auch in einen Zusammenhang mit der globalen Erd­erwärmung gebracht wird, hatte drei Flüsse über die Ufer treten lassen und die nördlichen Regionen des Landes überschwemmt. Es gab drei Tote und einen beträchtlichen Schaden an Viehbeständen und Infrastruktur; die internationale Gemeinschaft sandte Katastrophenhilfe.

Meine Schuhe waren völlig durchnässt, als ich auf der Suche nach Schutz durch die Straßen der armenischen Hauptstadt Jerewan rannte. Die unheilvolle Stimmung am Himmel schien die Stimmung auf der Straße widerzuspiegeln. 2020 hatte das Nachbarland Aserbaidschan begonnen, die umkämpfte Region vom Erzfeind Armenien zurückzuerobern. Im September vergangenen Jahres wurde der Sieg besiegelt.

Die Armenier schließen nicht aus, dass die Aserbaidschaner angesichts der anhaltenden Streitigkeiten über die neue Grenzziehung zwischen den kaukasischen Nachbarländern erneut angreifen werden. Dabei ist ihnen klar, dass sie mit Blick auf ihre begrenzten militärischen Ressourcen und angesichts der Tatsache, dass Aserbaidschan von der Türkei unterstützt wird, nicht gewinnen können. Aber dieses Bewusstsein vermischt sich mit einem Gefühl von Trotz: dass die regierenden Politiker das Problem sind, allen voran der derzeitige Premierminister Nikol ­Paschinjan, und dass also noch nicht alles verloren ist.

Nachdem Paschinjan entschieden hatte, als Teil des Friedensprozesses vier Grenzdörfer Aserbaidschan zuzuschlagen, kam es in der armenischen Hauptstadt am 26. Mai zu Protesten – es war derselbe Tag, an dem die katastrophalen Überschwemmungen den Norden des Landes trafen. Trotz des Regens füllten Zehntausende Demonstranten den Platz der Republik und die angrenzenden Straßenzüge in Jerewan. Menschen unterschiedlichsten Alters trugen die armenische Flagge oder schwenkten die Farben von Arzach – der armenische Name für Bergkarabach – und forderten Paschinjan auf abzutreten. Ich fragte eine Kollegin, die die Proteste filmte, ob hier vielleicht Russland seine Finger im Spiel habe? „Nein“, sagte sie, die Menschen hier seien nicht prorussisch, „sie sind proarmenisch“.

Jeder, mit dem ich während der Woche im Mai in Armenien sprach, kam irgendwann auf den Krieg zu sprechen. Wo sollte man die 120.000 Kriegsflüchtlinge aus Bergkarabach, die ethnisch Armenier sind und alle im September 2023 geflohen waren, unterbringen? Wie es angehen könne, dass Aserbaidschaner einfach das kulturelle Erbe der Region zerstörten? Und ob irgendjemand auf der internationalen politischen Bühne eigentlich noch zu Armenien halte?

Fast nebenbei, als ob das offensichtlich wäre, erwähnten die Einheimischen, dass die Aserbaidschaner auch wegen des Wassers gekommen seien. Dass es das Wasser sei, worum es ihnen in diesem Krieg gehe. Ein Armenier sagte mir: „Schau dir die Gebiete an, die sie besetzt haben. Dort gibt es einen großen Wasserreichtum.“

Dann habe ich begonnen zu recherchieren, welche Rolle das Wasser spielt im ältesten Konflikt im Südkaukasus.

Angesichts der Topografie Aserbaidschans einerseits und der Veränderungen durch den Klimawandel andererseits sahen viele Experten und Wissenschaftler den Bergkarabachkrieg als einen „Kampf um Wasserressourcen“. Die Realität ist allerdings differenzierter.

Seit dem Zerfall der Sowjetunion war Bergkarabach eine umkämpfte Region, auf die sowohl Aserbaidschan als auch Armenien Gebietsansprüche erhoben: Aserbaidschan, weil die Region offiziell auf dem Staatsgebiet der Kaukasusrepublik liegt; und der Nachbar im Westen, weil die Mehrheit der Einwohner Bergkarabachs ethnische Ar­me­nie­r*in­nen sind. Tatsächlich ist die Gegend wasserreich: Acht Zuflüsse der Kura und des Araks, der größten Flüsse in der Region, entspringen hier – das macht Bergkarabach zentral wichtig für die Trinkwasserversorgung im Südkaukasus.

Die Länder dieser Region – Armenien, Georgien und Aserbaidschan – liegen im den Ebenen von Kura und Araks. Aserbaidschan liegt am weitesten flussabwärts Richtung Kaspisches Meer. Rund 75 Prozent der Wasserressourcen des Landes, die vor allem als Trinkwasser und zur Bewässerung gebraucht werden, stammen aus Oberflächenwasser, das außerhalb des Staatsgebiets entspringt.

Die Region leidet schon jetzt unter Wasserknappheit. Es ist eine ungute Mischung aus einem ohnehin halb trockenen Steppenklima und ineffizientem Wassermanagement – und der Klimawandel macht die Herausforderungen noch größer. Baumwollfelder zum Beispiel müssen extensiv bewässert werden – mit einer Wasserinfrastruktur aus Sowjetzeiten, die ohnehin schon auseinanderfällt.

Dennoch, sagt Analyst Shujaat Ahmadzada, sei Wasser in diesem Krieg nicht „auf der Top-5-­Prioriätenliste“ der Entscheider gewesen. Wichtiger als die Wasserressourcen seien die lange schwelenden Auseinandersetzungen über die Gebietsansprüche beider Staaten gewesen.

Kriege brächen selten über Wasser allein aus, sagt Jenniver Sehring, Assistenzprofessorin für Wasserversorgung und Diplomatie am niederländischen Delft Institute for Water Education der Unesco. Aber, sagt sie, Wasser könne als „ein Auslöser in einer ohnehin schon spannungsgeladenen Situation“ fungieren. Wenn Wasserknappheit innerhalb eines größeren Konflikts als Faktor hinzukommt, sei es sehr wahrscheinlich, dass sich die Spannungen dadurch vergrößerten.

Aserbaidschan litt bereits im Sommer vor der Offensive 2020 unter Wasserknappheit – Nargis Hadschijeva, Politikwissenschaftler an der staatlichen Universität Aserbaidschan für Wirtschaftswissenschaften, sagt: auch deshalb, „weil wir keinen Zugang zu den Wasserressourcen von Karabach bekommen haben, was bedeutet, dass uns 25 Prozent der benötigten Ressourcen gefehlt haben“. Ähnliches wurde auch in den staatlichen aserbaidschanischen Medien und von Präsident Ilham Alijew wiederholt.

„Diese Debatten in den Medien und politische Reden beeinflussen die Öffentlichkeit und politische Entscheidungsfindungen“, sagt Sehring vom Delft Institute. Deshalb habe Wasserknappheit den Konflikt um Bergkarabach noch dringlicher gemacht – und sei es, weil die aserbaidschanische Regierung ein Interesse daran hatte, den Unmut der aserbaidschanischen Öffentlichkeit im Keim zu ersticken.

Im Dezember 2023, nach der endgültigen Besetzung, schrieben aserbaidschanische Staatsmedien, dass „die Nutzung von Wasserressourcen der Karabachregion das hauptsächliche Ziel ist, um Versorgungsprobleme im Land zu lösen“.

Wenn der Krieg auch nicht primär um Wasser geführt wurde – es wurde dennoch als „Druckmittel von beiden Seiten benutzt“, sagt Analyst Ahmadzada.

Sarsang ist der größte Staudamm in Bergkarabach, ein riesiges Wasserrückhaltebecken. Sarsang liefert rund 40 Prozent des Stroms für die Region. Seit dem Krieg ist es in aserbaidschanischer Hand. Vor 2020 hatten die aserbaidschanischen Machthaber die De-facto-Regierung von Arzach beschuldigt, den aserbaidschanischen Farmern absichtlich Wasser vorzuenthalten. Die international nicht anerkannte Republik Arzach wurde seit dem ersten Krieg mit Aserbaidschan bis Herbst 2023 souverän regiert.

2016 hatte das Europäische Parlament in Brüssel in einer Resolution festgehalten, dass die verantwortlichen Stellen in Bergkarabach den weiter flussabwärts liegenden aserbaidschanischen Regionen Wasser „absichtlich vorenthalten“; die armenische Regierung in Jerewan wurde aufgefordert, Wasserressourcen nicht als „politisches Instrument“ zu benutzen.

Armenien hatte die Resolution als einseitig kritisiert, weil die Berichterstatter nur Aserbaidschan besucht hätten, und betont, dass 2013 Vertreter der Republik Arzach aserbaidschanische Behörden ersucht hätten, eine Lösung für beide Seiten zu finden. Baku hatte das Angebot allerdings ignoriert, weil man dort ablehnte mit – aus aserbaidschanischer Sicht – Separatisten zusammenzuarbeiten.

Ein anderer Streitpunkt ist verschmutztes Flusswasser. Elshan Ahmadov ist Direktor am Institut für nachhaltige Entwicklungsplanung und Management an der Akademie für öffentliche Verwaltung in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku. Er sagt, da Aserbaidschan „das letzte Land ist, durch das die Flüsse fließen, bevor sie ins Meer münden, kommt das Wasser bei uns in einem sehr verschmutzten Zustand aus Armenien und Georgien an“. Laut Ahmadov ist der Grad der Verschmutzung so hoch, dass das Wasser nicht für die Bewässerung in der Landwirtschaft benutzt werden kann.

Für zwischenstaatliches Wassermanagement ist das ein häufig diskutiertes Thema, wenn Abwassersysteme nicht vereinheitlicht sind. Ein Beispiel ist die Oder, der Grenzfluss zwischen Polen und Deutschland. Vor zwei Jahren hatte es dort ein riesiges Fischsterben gegeben, nachdem auf polnischer Seite Abwassernormen seitens der Industrie nicht eingehalten wurden.

Im Fall von Bergkarabach haben aserbaidschanische Behörden die armenische Seite beschuldigt, durch die Verschmutzung einen „Ökozid“ verursacht zu haben. Die armenische Seite spielt genau diese Anschuldigungen allerdings zurück.

Aserbaidschan beschuldigt Armenien, einen „Ökozid“ durch Wasserverschmutzung verursacht zu haben

Während meiner Recherchereise habe ich auch den Sevansee besucht. Auch wenn Armeniens größter See nicht zentral ist für die Versorgung mit Trinkwasser – das wird hauptsächlich aus dem Grundwasser gespeist –, so ist er mit seinen vielen mittelalterlichen Klöstern am Ufer doch eine wichtige Touristenattraktion. Seit Bergkarabach in aserbaidschanische Hände gefallen ist, werden alle Quellen und Zuflüsse, die den See speisen, von Aserbaidschan kontrolliert. Von der Bevölkerung, die am Sevansee lebt, habe ich einiges an Schreckensszenarien gehört: dass die Aserbaidschaner die Zuflüsse absichtlich vergiften würden, damit man den Sevansee nicht mehr nutzen könne; oder aber, im Gegenteil, dass Aserbaidschan den See selbst als Trinkwasserreservoir nutzen und Wasser ableiten wolle.

„Diese ganzen Diskussionen sind manipuliert“, sagt Garabet Kazanjian, Wasserexperte an der American University von Armenien. „Wasser wird als politische Waffe benutzt, und da ist nicht viel an konstruktivem Dialog, um gemeinsame Vereinbarungen zu treffen und zu überlegen, wie man diese Ressource teilen kann.“

Effektive zwischenstaatliche Vereinbarungen über die Wassernutzung zwischen Armenien und Aserbaidschan gibt es nicht. Von den kaukasischen Staaten hat nur Aserbaidschan die UN-Wasserkonvention unterzeichnet, die darauf abzielt, die Wassernutzung zwischen den Ländern besser zu regeln. Während die derzeitige Situation die politischen Spannungen eher befeuert, betonen Experten, dass Debatten über Wassernutzung auch benutzt werden können, um auf weniger heiklem politischem Terrain zu einem Austausch zu kommen.

Es gibt den Ansatz, dass bei der Annäherung und für Friedensprozesse Umweltthemen benutzt werden – zum Beispiel Flächenbrände, Biodiversität, der Klimawandel oder eben Wasser“, sagt Sehring. Es gehe darum, in pragmatischen Dingen eine Kooperationsbasis zu finden und politische Themen erst mal zurückzustellen. „Das kann dann beiden Seiten zeigen, dass es eine Zusammenarbeit von gegenseitigem Vorteil sein kann – und es ist auch eine Möglichkeit, ins Gespräch zu kommen und ein langfristiges Vertrauensverhältnis aufzubauen.“

Sehring weist darauf hin, dass man nicht gleich ausgereifte, formale Vereinbarungen als Ziel haben muss – vielmehr könnte die Zusammenarbeit auf einem eher technischen Level starten. Internationale Organisationen machen solche regio­nale Projektarbeit. Zum Beispiel gibt es derzeit im Wasserbereich das Projekt „EU4Environment – Wasser und Messdaten in östlichen Partnerländern“ sowie das Programm „USAID Südkaukakasus Regional Water Management“.

Lusine Taslakyan, frisch promoviert zum Thema Wasserressourcen an der University of Idaho in den USA, hat zwischen 2003 und 2014 in zahlreichen zwischenstaatlichen Wasserprojekten mitgearbeitet, die vom amerikanischen Entwicklungsministerium (USAID), vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) sowie von der EU unterstützt wurden. Ihr Fazit: Die Kooperationen auf Projektebene waren effektiv, auch wenn es „natürlich ein bisschen merkwürdig ist, wenn die Länder nicht miteinander sprechen“. Die Treffen fanden in Tiflis statt, der Hauptstadt von Georgien, und „wir haben ausschließlich auf Expertenlevel miteinander geredet, uns über Fragen zur Wasserqualität und zum Wassermanagement ausgetauscht. Über Politik haben wir nie geredet“, erzählt sie.

Ahmadzada, der Politikwissenschaftler, sagt, dass zwischenstaatliches Wassermanagement „ein Bereich ist, wo eine Kooperation zwischen Aserbaidschan und Armenien nicht eine Option ist, sondern vielmehr alternativlos“. Er betont, dass der Konflikt über Bergkarabach einschließlich anhaltender Grenzziehungskonflikte in einem größeren geopolitischen Kontext gesehen werden müssten: „Je mehr der Konflikt jetzt bilateral beigelegt wird, desto größer ist die Gefahr, dass er Raum lässt für Interessen und Einflussnahmen anderer globaler, hegemonischer Mächte – Iran, Russland, die USA – in der Region.“

Ahmadzada hofft, dass die nächste Weltklimakonferenz COP29, die im November in Baku stattfindet, in den armenisch-aserbaidschanischen Beziehungen einen Durchbruch bringen wird. Armenien hat sich einverstanden erklärt, kein Veto einzulegen gegen die Gastgeberrolle des Nachbarlands. Im Juni hieß es, der armenische Premierminister Paschinjan – gegen den sich die Proteste Ende Mai in Jerewan richteten – wolle höchstselbst teilnehmen.

Paschinjans Büro hat die vermeintlichen Reisepläne des Premiers zur COP allerdings bereits wieder zurückgewiesen: Der Premierminister habe keine Pläne, der Konferenz beizuwohnen. Eine „Friedens-COP“ scheint also reichlich unwahrscheinlich für die Armenier, die die „Grenzkorrekturen“ seitens der Aserbaidschaner als Besatzung von 150 Quadratkilometern ihres Territoriums begreifen.

Die Einheimischen sagen, dass die Aserbaidschaner auch wegen des Wassers gekommen seien

Die weltweit wichtigste Klimakonferenz auszurichten ist ein diplomatischer Erfolg für die Regierung in Baku. Aserbaidschans Energiewirtschaft ist wie die des letztjährigen Gastgebers Vereinigte Arabische Emirate komplett abhängig von fossilen Energiequellen. Und wie letztes Jahr die Emirate versucht Aserbaidschan sein Image vor der COP grünzuwaschen.

Das Land hat 2024 zum „Jahr der Solidarität für eine grüne Welt“ ausgerufen. Baku will seinen Anteil an erneuerbaren Energien steigern – zunächst, bis 2030, sollen 30 Prozent der gesamten Energieerzeugung aus erneuerbaren Quellen kommen. Langfristiges Ziel ist es, in den Export von Erneuerbaren einzusteigen.

Bergkarabach ist für diese Bemühungen zen­tral wichtig. 2021 hatte Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew Bergkarabach zur „grünen Energiezone“ erklärt und Investitionen vor allem in Wasser-, aber auch in Wind- und Solarkraft angekündigt.

Innerhalb weniger Monate nach der vollständigen Eroberung der Region wurden dort neue Wasserkraftwerke eröffnet. Bis heute wurden insgesamt vier neu gebaut, über zehn wurden nach der Ausbesserung der Kriegsschäden wieder in Betrieb genommen. 40 weitere Wasserkraftwerke unterschiedlicher Größe sind in Planung.

Zwischen 2021 und 2023 hat Aserbaidschan rund 2,3 Milliarden US-Doller in das „Erste staatliche Programm für die Große Rückkehr“ investiert. Es zielt darauf, Infrastruktur für die Wiederansiedlung von rund einer Million Aserbaidschaner in Bergkarabach aufzubauen. Im Jahr 2022 flossen mindestens 3 Prozent der Gelder an Azerenergy, den staatlichen Stromproduzenten, um damit Wasserkraft zu fördern.

„Das Wasserkraftpotenzial, dass wir in den befreiten Gebieten bis Ende des Jahres haben werden, beträgt 170 Megawatt“, sagte Präsident Alijew in einer Rede in der gerade eroberten Region Ostsangesur am 23. September 2023. „Bis Ende 2024 werden wir bei 270 Megawatt sein, was unsere grüne Agenda wesentlich unterstützen wird. Die Region Ostsangesur und Karabach haben ein Potenzial von 10.000 Megawatt grüner Energie – aus Wasser, Sonne und Wind.“

Der wichtigste Partner für die aserbaidschanische Wasserkraftindustrie ist die japanische Firma Tokio Electric Power Services Co. Der britische Ölmulti BP und das private saudische Energieunternehmen ACWA Power arbeiten ebenfalls mit der Regierung zusammen. Eine Schweizer Firma wiederum, sa_partners, wurde mit Plänen für grüne Stadtentwicklung beauftragt. „Karabach wird das neue Silicon Valley sein“, sagt Hajiyeva von der staatlichen Universtät für Wirtschaftswissenschaften in Aserbaidschan. „Aber auf eine grüne Weise.“

Der größte Fokus liegt auf der Wasserkraft, vor allem wegen der guten Bedingungen dank der bergigen Topografie und auch deswegen, weil es bereits viele bestehende Wasserkraftwerke gibt. Vor der Offensive 2020 konnte sich Bergkrabach selbst versorgen, sogar Strom ins armenische Netz exportieren – dank 36 funktionierender Wasserkraftwerke.

Die Grenzziehung zwischen Armenien und Aserbaidschan birgt auch nach dem Ende des Bergkarabachkriegs Konfliktstoff: Menschen demonstrieren in Armeniens Hauptstadt Jerewan im Mai 2024 gegen eine umstrittene Entscheidung ihrer Regierung Foto: Anthony Pizzoferrato/Middle East Images/afp

Laut Kazanjian von der American University in Armenien war es seitens Bergkarabach ein „Statement“, in Wasserkraftwerke zu investieren: „Sie haben damit gezeigt, wie ernst es ihnen damit war, dieses Land zu entwickeln. Die Kraftwerke sind nicht billig, sie sind eine wirkliche Investition.“

Aserbaidschan wiederum, sagt Kazanjian, habe es „extrem eilig damit gehabt, eigene Projekte an den Start zu bringen. Drei Monate nach dem Waffenstillstand 2020 hat Alijew dort bereits ein Wasserkraftwerk eröffnet. Das ist sicher auch dem Bedarf geschuldet, aber es ist auch eine sehr starke politische Botschaft, um Stärke zu zeigen und den Sieg zu untermauern.“

Bakus Pläne, die erneuerbaren Energien zu fördern, erfolgen mit Blick auf die EU. Nach dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine im Februar 2022 hat die Staatengemeinschaft eine Absichtserklärung unterzeichnet, die Beziehungen mit Aserbaidschan im Bereich der erneuerbaren Energiewirtschaft zu stärken. Außerdem heißt es in dem Papier, man wolle sich bemühen, die aserbaidschanischen Kapazitäten im Bereich der Erneuerbaren zu fördern, um einen Teil davon in die EU zu exportieren.

Zugleich beziehen die EU-Staaten seit 2021 immer mehr fossile Energie aus Aserbaidschan. Aktuell beträgt Aserbaidschans Anteil an den europäischen Energieimporten 4,3 Prozent. Die EU-Kommission bezeichnet die Gasverträge mit Aserbaidschan als „stabil und verlässlich“ und beabsichtigt, die Importe bis 2027 zu verdoppeln.

In der Zwischenzeit hat das Europäische Parlament allerdings Sanktionen gegen die Energiewirtschaft Aserbaidschans beschlossen und eine Aussetzung der Absichtserklärung über die Gasimporte gefordert. In der Resolution vom Februar 2024 verurteilt das Parlament die „Aggressor-Politik, einschließlich des vorbereiteten militärischen Angriffs von Aserbaidschan gegen Bergkarabach, [sowie] den geplanten Hungertod und die Isolation der Armenier in Bergkarabach während der Blockade des Lachin-Korridors“. Der Lachin-Korridor, eigentlich eine Versorgungsstraße zwischen Armenien und Bergkarabach, wurde von Aserbaidschan ab 2020 jahrelang systematisch blockiert.

Sehring, die Assistenzprofessorin für Wassermanagement, betont, dass Wasserkraftwerke oft „sehr eng verbunden sind mit dem Aufbau von staatlichen Strukturen und nationaler Identität. Es ist etwas Modernes, gewaltige Infrastruktur, an der die Regierung zeigen kann, dass sie etwas tut.“

Es bleibt abzuwarten, ob die aserbaidschanischen Wasserkraftwerkspläne mehr sind als ein PR-Stunt, sowohl für die internationale Gemeinschaft im Vorfeld der COP29 als auch mit Blick auf die lokale Bevölkerung.

Ein Bericht der unabhängigen Denkfabrik Economic Research Center, der die Investitionen der aserbaidschanischen Regierung in Bergkarabach unter die Lupe nimmt, analysiert, dass von 2022 bis Mitte 2023 „keine ernsthaften Anstrengungen unternommen wurden, um zerstörte Siedlungen wiederherzustellen oder die Rückkehr binnenvertriebener Personen zu ermöglichen“. Zugleich seien die größten Nutznießer in der Region Firmen im Besitz von Freunden und Verwandten des Geschäftsführers von Azerenergy, Balababa Rzayev, gewesen.

Wasserkraftwerke zu bauen, ohne vorher die möglichen Umweltfolgen zu prüfen, kann dem Ökosystem der Bergwelt schaden. Anfang 2020, vor der aserbaidschanischen Offensive, begann der Bergkarabacher Alexander Kananyan einen Hungerstreik, um gegen die Entwicklung neuer Wasserkraftwerke in der Region zu protestieren. Er argumentierte, dass die wichtigsten Flüsse und Zuflüsse „komplett zerstört“ würden. Viele unterstützten seinen Protest. Am Ende setzte die damalige De-facto-Regierung der Republik Arzach den Bau neuer Kraftwerke aus und setzte eine Kommission ein, die die Umweltauswirkungen prüfen sollte.

Ob die aserbaidschanische Seite die Umweltrisiken mitbedenkt, ist nicht klar. Die NGO Conflict and Environmental Observatory (CEOBS) weist darauf hin, dass die Geschwindigkeit, mit der Aserbaidschan in Bergkarabach baut, negative Folgen für die Umwelt haben kann. Der CEOBS-Bericht fokussierte sich auf Abholzungen für den Autobahnbau. Aber einer der Autoren, Eoghan Darbyshire, betont, dass der Bau der Wasserkraftwerke zu schnell passieren könnte. „Wir können keinerlei Belege finden, dass Untersuchungen bezüglich der Umweltauswirkungen unternommen werden. Das kann insbesondere für die langfristige Versorgung mit Wasser und für die Biodiversität riskant sein.“

Das Thema Wasserkraft wirft weiter einen Schatten auf die armenisch-aserbaidschanischen Beziehungen. 2023 hat Aserbaidschan Armenien vor dem Ständigen Schiedshof in Den Haag verklagt, weil Armenien in Bergkarabach illegal erneuerbare Energien genutzt habe, insbesondere Wasserkraft. Der Fall ist noch nicht entschieden.

Gut möglich, dass es mehr als eine Kooperationsvereinbarung über die Wassernutzung oder eine internationale Klimakonferenz im November braucht, um zwei Nationen dazu zu bringen, miteinander zu reden.

Aus dem Englischen von Anna Klöpper