„EineÄrageht zu Ende“

An den antijüdischen Protesten in den USA zeigt sich ein grundsätzlicher Wandel der Gesellschaft. Ein Gespräch mit dem Journalisten Franklin Foer

Interview Sebastian Moll

wochentaz: Herr Foer, wie haben Sie die Pro-Palästina-Proteste in den USA erlebt?

Franklin Foer: Es war zutiefst entnervend. Man bekam den Eindruck, dass das Land in einer Spirale der Überreaktionen gefangen ist. Es fühlt sich im Moment so an, als seien die Autoritäten und Institutionen darüber verwirrt, wie sie reagieren sollen. Aus der Perspektive der amerikanischen Juden hat zumindest die offizielle Reaktion die Dinge schlimmer gemacht. Sie hat dazu geführt, dass Demonstranten, die vielleicht ursprünglich nicht antisemitisch waren, die Autoritäten nun beschuldigen, von jüdischen Organisationen oder jüdischen Einzelpersonen manipuliert worden zu sein. Das ist klassischer Antisemitismus.

Viele der Demonstranten haben den Vorwurf des Antisemitismus heruntergespielt, und es gibt viele jüdische Intellektuelle, die sich den Demonstrationen angeschlossen haben. Wie manifestiert sich Ihrer Meinung nach der Antisemitismus?

Ich glaube nicht, dass die Proteste per se antisemitisch waren, und die Israelis haben weiß Gott vieles getan, dass es verdient, verurteilt zu werden. Aber ich sehe einige Dinge, die mich beunruhigen. Das erste ist die Art und Weise, wie die Hamas dazu in der Lage war, die Diskussion zu lenken. Wenn man der Linken in den USA zuhört, dann hört es sich ja so an, als wäre Hamas nicht im Geringsten für irgend etwas mitverantwortlich, was gerade passiert. Es gibt eine nicht triviale Anzahl von Vorfällen, in denen Hamas-Slogans skandiert wurden und Hamas-Fahnen geschwenkt werden. Und es gab auch einige Fälle von offenem Antisemitismus.

Sie nennen sich einen liberalen amerikanischen Juden, der der israelischen Regierung kritisch gegenübersteht. Wie schwer ist es für Sie, noch diese Position einzunehmen?

Ich glaube, dass die meisten amerikanischen Juden diese Position einnehmen. Die Netanjahu-Regierung hat die Kampagne in Gaza ohne jegliche Vorstellung davon verfolgt, wie eine bessere Zukunft aussehen soll. Das ist zutiefst demoralisierend. Es gäbe im Augenblick eine historische Gelegenheit für eine stabile politische Lage im Nahen Osten, und es sind allein die Israelis, die dem im Weg stehen. Netanjahu handelt ganz offensichtlich dem nationalen Interesse von Israel entgegen.

Und Sie glauben, dass die meisten amerikanischen Juden so denken?

Ja, die meisten amerikanischen Juden sind sehr liberal. Aber sie reagieren natürlich auch allergisch, wenn die Existenz des Staates Israel infrage gestellt wird. Für uns ist Israel mehr als nur das Netanjahu-Kabinett. Deshalb befinden wir uns derzeit in einer komplizierten Lage.

Wie haben Sie persönlich die vergangenen Wochen erlebt?

Der Autor Franklin Foer, geboren 1974, ist ein amerikanischer Journalist und Autor mehrerer Bücher. Zuletzt erschien „The Last Politician: Inside Joe Biden’s White House and the Struggle for America’s Future (2023).“

Der Aufsatz „The Golden Age Of American Jews Is Ending“ lautet der Titel des Aufsehen erregenden Aufsatzes, den Foer kürzlich in „The Atlantic“ veröffentlicht hat. Kernthese: Der Antisemitismus von rechts und links be­droht auch die liberale Ordnung, die jüdische Denker mitetabliert haben.

Meine direkte Nachbarin ist Rabbinerin und sie ist auf offener Straße als „Kike“ bezeichnet worden, ein gängiges Schimpfwort für Juden. Bei uns in der Straße gab es ein Graffito, das die israelische Armee mit dem Ku-Klux-Klan verglichen hat. In der Schule meiner ­Tochter tauchten auf den Toiletten Hakenkreuze auf. Keins dieser Ereignisse ist zutiefst bedrohlich, aber es fühlt sich vollkommen anormal an. Ich habe so etwas noch nie in den USA beobachtet.

Und Sie fühlen sich dadurch als Jude in Amerika verunsichert?

Ja, es entsteht bei mir der Eindruck, als gehe eine Ära zu Ende. Ich meine, die Tatsache, dass die goldene Ära der amerikanischen Juden zu Ende geht, bedeutet nicht, dass wir uns auf dem Weg nach ­Auschwitz befinden. Aber es bedeutet, dass die Erfahrung, als Jude in Amerika zu leben, sich eher der historischen Norm angleicht, als dem Ausnahmezustand, in dem wir uns seit 70 Jahren befunden haben.

Sie schreiben in einem Aufsatz in The Atlantic“, dass Sie in der Mitte dieses goldenen Zeitalters der amerikanischen Juden aufgewachsen sind. Was hat dieses Zeitalter ausgezeichnet?

Der Antisemitismus ist nach dem Zweiten Weltkriegs in Amerika weitestgehend verschwunden. Alle Barrieren, die vorher die herrschende protestantische Klasse errichtet hat, fielen weg. Es gab keine Zugangsbeschränkungen mehr zu Universitäten, es gab keine Einschränkungen mehr, in welchen Gegenden Juden wohnen durften. Es gab eine angestaute kreative Energie, die einfach explodiert ist. Jüdische Literatur fand Eingang in die großen Werke der amerikanischen Literatur, es gab jüdische Figuren und jüdische Themen in Fernsehen und Film. Und es gab eine überproportionale jüdische Präsenz in wichtigen Institutionen, insbesondere im Hochschulbereich. Als ich an der Columbia University war, war diese zu 30 Prozent jüdisch, was verrückt ist, weil Juden nicht einmal drei Prozent der Bevölkerung ausmachen.

Diese Situation der Juden in Amerika war historisch einmalig?

Nun, es gab schon andere Situationen, in denen Juden eine ähnlich große Rolle in der Gesellschaft gespielt haben, zum Beispiel im Deutschland des frühen 20. Jahrhunderts. Aber was in Amerika anders war, war, dass sie nicht das Gefühl hatten, ihre Identität aufgeben zu müssen, um im Mainstream akzeptiert zu werden.

Die amerikanische Form der Integration war schon immer die Bindestrichidentität.

„Dass die pluralistische Gesellschaft etwas Gutes ist, haben jüdische Denker artikuliert“

Ja, und die Juden hatten einen großen Anteil daran, dieses Modell zu erfinden und zu popularisieren. Sie müssen sich nur das Gedicht auf dem Sockel der Freiheitsstatue anschauen, von der Jüdin Emma Lazarus verfasst, das die Idee von Amerika als Nation von Einwanderern artikuliert. Das war seinerzeit nicht die gängige Auffassung. Der Gedanke einer pluralistischen Gesellschaft als etwas Gutem wurde von jüdischen Denkern artikuliert.

Sie schreiben in Ihrem Aufsatz, dass der jüdische Liberalismus lange Zeit mit dem amerikanischen Liberalismus identisch war. An welchem Punkt begannen die beiden, sich voneinander zu entfernen?

Das 21. Jahrhundert war insgesamt bisher eine Zeit, in der sich der klassische Liberalismus immer mehr aufgelöst hat. Es gab eine Krise nach der anderen, die zu Verschwörungstheorien und einem wachsenden Misstrauen führten. Heute hat man das Gefühl eines andauernden Ausnahmezustands, in dem alles existenziell ist und man sich Toleranz nicht mehr leisten kann. Und historisch ist es nun einmal wahr, dass in Zeiten der Krise Juden als Prügelknaben herhalten müssen. Wir hatten 9/11, die Finanzkrise von 2008 und den Irakkrieg, und plötzlich wird George Soros für die Einwandererflut verantwortlich gemacht.

Der „Virus“ des Antisemitismus rührt sich wieder.

Ich mag die Metapher des Antisemitismus als Virus nicht so sehr. Ich sehe Antisemitismus eher als eine mentale Angewohnheit, die jederzeit aktiviert werden kann.

Sie sprechen von der Krise des Liberalismus. Welche der zentralen Elemente des alten Liberalismus sind denn verloren gegangen?

Nach einer propalästinensischen Demonstration am amerikanischen Unabhängigkeitstag Foto: Derek French/Imago

Es gab Ideen von Toleranz, es gab die Idee der Meritokratie, es gab das Eintreten für die Ausweitung des Wohlfahrtsstaates, der notwendig ist, um soziale Stabilität zu gewährleisten und das Auftreten eines populistischen Mobs zu verhindern. Ich glaube, dass alle diese Dinge im 21. Jahrhundert diskreditiert worden sind.

Sie schreiben, dass Sie es erwartet haben, dass diese Dinge von rechts unter Beschuss geraten, dass es aber ein Schock war, dass sie nun auch von links attackiert werden.

Im Zeitalter der politischen Polarisierung wollen wir immer die andere Seite als Monster sehen und unsere Seite als Engel. Jeder zeigt auf jeden mit dem Finger. Der Augenblick, an dem ich wirklich angefangen habe, mir Sorgen zu machen, war, als meine Tochter sich in der Bewegung für Klimagerechtigkeit engagiert hat und ihre Organisation, das Sunrise Movement, sich geweigert hat, mit jüdischen Gruppen zu kollaborieren. Dabei spielte die Tatsache, dass es bei der Sache überhaupt nicht um Israel ging und diese jüdischen Gruppen der israelischen Regierung kritisch gegenüberstanden, keine Rolle. Zionismus und Judentum wurden als so toxisch angesehen, dass sie nicht mehr mit der Linken unter einen Hut zu bringen waren.

Ist die Polarisierung unüberwindbar? Hält die Mitte nicht mehr?

Ich denke schon, dass die Mitte bröckelt. Ich bin da nicht sehr optimistisch. Joe Biden versucht ja, von einer Position des Konsenses aus zu regieren, und trotzdem können wir uns auf nichts mehr verständigen.