„Kein
Kopieren,
keine
Koalitionen“

In Frankreich stehen die Rechten vor einem Machtgewinn, in Italien und Ungarn regieren sie schon. Populismusforscher Jan-Werner Müller warnt vor Umarmungsstrategien

Poster in der Stadt Hénin-Beaumont karikieren Éric Ciotti, den umstrittenen Chef der französischen Konservativen, der mit den Rechtsextremen Le Pen und Bardella kuschelt Foto: Yves Herman/reuters

Interview Stefan Reinecke

wochentaz: Herr Müller, in Frankreich stehen die Rechtsextremen um Marine Le Pen vor einem Machtgewinn. Warum?

Jan-Werner Müller: Es ist dem Rassemblement National (RN) gelungen, gemäßigt zu wirken. Das hat zwei Gründe. RN konkurriert mit Éric Zemmour, der noch extremistischer auftritt. Vor diesem Hintergrund konnte sich RN als moderatere, scheinbar normale rechtsbürgerliche Kraft inszenieren. Diese Dynamik hat Le Pens Politik der Entteufelung plausibel erscheinen lassen. Ähnlich hat das in Italien auch für Giorgia Meloni funktioniert, die sich von Matteo Salvini distanzieren konnte.

Und der zweite Grund?

Die bürgerlichen Parteien haben viele rechtsextreme Positionen systematisch legitimiert. Die politische Brandmauer ist spätestens im Februar 2022 gefallen, als Valérie Pécresse, die Kandidatin der Republikaner bei der Präsidentschaftswahl, sich die rechtsextreme These vom „großen Austausch“ zu eigen gemacht hat. Demnach soll das französische Volk durch Einwanderung zerstört werden. Bei einer Debatte hat der französische Innenminister Marine Le Pen vorgeworfen, sie sei bei der Bekämpfung des Islamismus zu weich. Das hat sogar Le Pen verwundert. Dass Präsident Emmanuel Macron Le Pen weiter als rechtsextrem bezeichnet, wirkt da nicht sonderlich überzeugend.

Gleichzeitigumarmen“ und „ausgrenzen“ ist also keine brauchbare Strategie im Umgang mit Rechtsextremen?

Man kann nicht die Gefährlichkeit der Rechtsextremen proklamieren und gleichzeitig ihre Inhalte kopieren. Das muss scheitern. Es gibt auch kein Beispiel, das gezeigt hat, dass bürgerliche Parteien Rechtsex­treme per Umarmung unschädlich machen können.

Vielleicht doch. Die christdemokratische ÖVP hat im Jahr 2000 in Österreich mit der rechten FPÖ regiert und sie damit fast ruiniert.

Ja, aber nur kurzfristig. Der ÖVP-Kanzler Wolfgang Schüssel hat die Zerstörung der FPÖ damals machiavellistisch geplant, der FPÖ Ministerien gegeben, in denen sie scheitern sollte. Die FPÖ versank in Korruptionsskandalen und spaltete sich. Aber sie hat sich davon erholt. Auch Macron scheint die Idee verfolgt zu haben, dass sich die Rechtsextremen an der Macht entzaubern und ihre Inkompetenz für alle sichtbar wird. Das ist eine brandgefährliche Illusion.

Macron hat sich als einzige vernünftige Alternative zum „Bürgerkrieg“, der Machtübernahme von rechts und links inszeniert. Warum ist das gescheitert?

Offenbar haben viele WählerInnen das für einen Erpressungsversuch gehalten. 2017 und 2022 hat die „Ich als Inkarnation der Republik oder der Extremismus“-Rhetorik noch funktioniert. Jetzt nicht mehr. Sie wurde als pädagogische Ansprache identifiziert, mit der Macron die Kritik an ihm an den Rand drängen wollte. Die Strategie, sich als Verkörperung eines technokratischen, alternativlosen dritten Weges zu verkaufen, hat sich ebenfalls erschöpft.

Wie ist es dann überhaupt möglich, den Rechtsextremismus einzudämmen?

Der Machtzuwachs dieser Akteure erklärt sich nicht dadurch, dass sie plötzlich viel mehr Menschen politisch attraktiv finden. Sie mobilisieren vielmehr viele, die vorher nicht zur Wahl gegangen sind. Und sie profitieren davon, dass man sie kopiert und damit legitimiert. Kein Kopieren, keine Koalitionen – das ist die Hauptlektion, und sie richtet sich klar an Mitte-rechts.

Also ausgrenzen, wo es geht?

Ja, um zu verhindern, dass Rechtsextremismus als normal angesehen wird. Das mag pedantisch klingen – aber man muss immer wieder daran erinnern, dass Donald Trump kein normaler US-Republikaner ist und RN keine rechtsbürgerliche Partei. Auf dieser Grenze zu beharren, ist eine Frage der Verantwortungsethik und des Anstands.

Die Rechtsextremen und -populisten sind in Europa in den Zentren der Macht angekommen. Meloni regiert in Italien, Geert Wilders in den Niederlanden, Le Pen rückt als französische Präsidentin näher. Brauchen wir da keinen neuen Blick, der Rechte, die demokratisch adaptierbar sind, von Rechten trennt, die die Demokratie zerstören wollen? Zugespitzt: Meloni akzeptieren, die AfD ausgrenzen?

Ich bin skeptisch. Dass die Postfaschisten in Rom nicht so schlimm sind wie erwartet, dass keine Schwarzhemden durch die Straßen marschieren, sollte uns nicht beruhigen. Autoritäre Regime sind heute weniger repressiv und gewalttätig als früher. Sie setzen nicht darauf, Gegner zu verfolgen, einzusperren oder gar zu töten als vielmehr darauf, die öffentliche Meinung zu kontrollieren und das Wahlsystem zu manipulieren. Es heißt, Meloni sei doch für die Ukraine und nicht gegen die EU. Letzteres ist angesichts der Milliarden, die von Brüssel nach Italien fließen, nicht überraschend. Man sollte nicht übersehen, dass die Postfaschisten versuchen, per Verfassungsreform in Italien durchzuregieren, Minderheitenrechte beschneiden und systematisch die Kulturinstitutionen besetzen.

Unterschätzen wir die Dramatik?

Es gibt einen Gewöhnungseffekt. Viele haben den Eindruck: Wir können nicht Tag und Nacht die Rolle von Demokratierettern spielen. Irgendwie werden die Extremen schon moderater. Deshalb gibt es den absurden Vergleich mit den Grünen, die ihre radikalen Elemente ja auch abgestreift haben. Man wünscht sich, dass es so wäre, weil man nicht dauerhaft im Panikmodus sein will. Dazu kommt: Die Rechten regieren zwar in vielen Staaten der EU, aber fast nirgends alleine. Sie sind Teile von komplizierten Koalitionen. Es ist ein Trugschluss, aus ihrem Agieren in Koalitionsregierungen zu schlussfolgern, dass sie sich in normal-moderate Kräfte verwandelt haben. Was sie tun würden, wenn sie die Mehrheit hätten, wissen wir nicht. Was wir wissen, ist, dass sie geschickt vorgehen und ihre Absichten oft kaschieren.

Sind die Rechten wirklich ein homogener, veränderungsresistenter Block? Was wäre denn ein Indiz für eine Wandlung?

Das ist eine gute, ergo schwierige Frage. Ich würde drei Kriterien vorschlagen. Erstens: Existiert eine versteckte Agenda? Es gibt über RN in Frankreich genug investigative Berichte, die zeigen, dass RN eine Doppelstrategie verfolgt und Außenwirkung und Innenleben verschiedene Dinge sind. Zweitens: Bauen Rechte das System autoritär um? Meloni versucht genau das derzeit in Italien. Und drittens: Teilen sie die Bürger nach ethnischen Kategorien in das wahre Volk und andere, die weniger oder gar nicht dazu gehören? RN will die Rechte von Franzosen mit doppelter Staatsangehörigkeit einschränken. Von dort führt eine Linie zu den Remigrationsideen des völkischen Flügels der AfD und dem geheimen Treffen in Potsdam.

Auch die Kampagne der Union 1999 gegen die doppelte Staatsangehörigkeit in Deutschland hat mit Bildern vom wahren Volk gespielt. Zum Konservativen gehörten immer völkische Aspekte. Müssen wir das Rechtsextreme nicht präziser fassen und abgrenzen?

Der Front National ist von Nazi-Kollaborateuren mitbegründet worden. Bei dem Nachfolger RN sollte man völkisches Denken als zentrales Element sehen. Außerdem gehören Verweise auf andere demokratische Staaten oder Parteien zu den Tricks, mit denen sich Rechtspopulisten selbst verharmlosen. Ich halte mich gerade in Budapest auf, wo man anschauen kann, was Rechtsautoritäre aus Demokratien machen. Um Kritik an seinem System zu kontern, verweist Viktor Orbán immer darauf, dass es Teile davon ja auch in Demokratien gebe, die über jeden Verdacht erhaben sind. Man muss aber immer das Gesamtbild im Auge behalten.

Ein zentrales Argument gegen Rechtsautoritäre lautet, dass sie das demokratische System zerstören, um faktisch nicht mehr abwählbar zu sein. Polen ist aber ein Gegenbeispiel. Warum war dort möglich, was in Ungarn schwerer oder unmöglich ist?

Die Methoden in Ungarn und Polen waren ähnlich. Man hat versucht, Medien, Justiz und Wirtschaft zu kontrollieren und die Zivilgesellschaft einzuschüchtern – aber ohne ans Limit zu gehen. In Budapest darf man noch demonstrieren oder investigativen Onlinejournalismus machen – solange es Orbáns Macht nicht gefährdet. Wenn ein Machtwechsel unmöglich ist, ist es keine Demokratie mehr.

Foto: O. Berg/picture alliance

Jan-Werner Müller

geboren 1970, ist Politologe. Er lehrt Politische Theorie und Ideengeschichte an der Princeton University, USA.

Was war in Polen anders?

Die PiS hatte anders als Orbán keine verfassungsändernde Mehrheit im Parlament, deswegen hat es von Anfang an mit dem Systemumbau nicht ganz geklappt. Die Opposition hat zudem geschickt agiert, und Donald Tusk ist eine starke, wenn auch polarisierende Figur. Man sollte aber nicht glauben, dass die Deformationen des Rechtsstaates in Polen einfach wieder reparabel sind. Die Lektionen der Wendezeit, runde Tische und Verhandlungen mit der Nomenklatura funktionieren in diesen Kontexten nicht. Die Rückverwandlung eines autoritären Regimes in ein demokratisches ist eine Herausforderung, auf die wir noch keine gute Antwort haben.

Gibt es etwas, das in der Debatte zu kurz kommt?

Ja, die Eliten. Es ist falsch, wenn wir uns den Sieg der Rechtsextremen als Ergebnis einer spontanen, nicht zu stoppenden Bewegung von BürgerInnen vorstellen, die mit der Demokratie brechen wollen. Es gibt historisch kaum Beispiele dafür, dass Mehrheiten die Demokratie abgeschafft hätten. Die Schwarzhemden sind 1923 auf Rom marschiert, Benito Mussolini aber kam im Schlafwagen. Die Faschisten hatten keineswegs die Mehrheit hinter sich. Ausschlaggebend war, dass die italienischen Eliten der Ansicht waren, dass Mussolini für Ordnung sorgen soll.

Bislang scheint die EU Rechte in Regierungen zu disziplinieren. Würde das mit einer Präsidentin Le Pen so bleiben?

Ich sehe eine graduelle, komplizierte Anpassung. Die EU beruht darauf, dass sich Gerichte gegenseitig vertrauen können. Wenn in vielen Ländern die Justiz politisch manipuliert wird, funktioniert das nicht mehr. Gleichzeitig wird die EU-Kommission ihrer Rolle als Hüterin der Verträge immer weniger gerecht: Es gab in den vergangenen Jahren viel weniger Vertragsverletzungsverfahren. Es gibt also schon jetzt eine wenig sichtbare Erosion der Standards. Im Maschinenraum läuft es nicht mehr rund. Auf der anderen Seite reden die Rechtspopulisten nach dem Brexit nicht mehr vom Ausstieg aus der EU. Denkbar ist also, dass die EU bleibt, aber schwächer wird. Wenn es überall heißt „Deutschland zuerst“, „Italien zuerst“, „Frankreich zuerst“, wird die Kompromiss- und Konsensmaschine stoppen. Das Ende der EU wird, wenn es kommt, nicht mit einem großen Knall passieren, sondern als innerer Verfall.

wahlen in frankreich
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Was passierte im ersten Wahlgang?

Bei der Wahl zur französischen Nationalversammlung konnte der rechtsextreme Rassemblement National (RN) fast die Hälfte der Wahlkreise für sich gewinnen. 297 von 577 gingen an die Partei von Frontfrau Marine Le Pen. In mehr als 300 Wahlkreisen qualifizierten sich drei Kan­di­da­t*in­nen für den zweiten Wahlgang am 7. Juli. Um die Chancen der RN-Kandidat*innen zu verringern, verzichteten 218 Drittplazierte anderer Parteien darauf, an der zweiten Runde teilzunehmen. Fraglich ist aber, ob das Kalkül aufgeht. Im Wahlkampf hatte Macron das linke Wahlbündnis Nouveau Front Populaire noch auf eine Stufe mit dem Rassemblement National gestellt und die linkspopulistische Partei La France Insoumise unter anderem als antidemokratisch bezeichnet. Ob sich genug An­hän­ge­r*in­nen der Macron-Partei finden, die den RN auf jeden Fall verhindern wollen und in ihrem Wahlkreis das Linksbündnis wählen, ist ungewiss. Ebenso, ob ausreichend Wäh­le­r*in­nen des Nouveau Front Populaire die bei vielen verhasste Macron-Partei wählen.

Was kann Macron noch machen?

Bislang war Präsident Emmanuel Macrons Partei Renaissance die stärkste Fraktion und stellte den Premierminister. Nun kann es sein, dass Macron dem RN den Auftrag zur Regierungsbildung erteilen muss. Von seinem Premier Gabriel Attal würde er sich dann verabschieden müssen.

Ex-Parteichefin Le Pen zufolge soll der RN auch ohne absolute Mehrheit die Regierung stellen. Anders hatte sich zuvor der aktuelle Parteichef Jordan Bardella geäußert. Er hatte angekündigt, nur Premierminister werden zu wollen, wenn seine Partei die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinen könne. Macron, dessen Amtszeit noch bis 2027 dauert, kann die Nationalversammlung frühestens in einem Jahr wieder auflösen.

Als Staatspräsident hat Macron weitreichende Befugnisse, etwa als Oberbefehlshaber der Streitkräfte. In gewissem Umfang kann er über Militär­einsätze entscheiden. Er verhandelt internationale Verträge, darf drei Rich­te­r*in­nen des Verfassungsgerichts benennen und Beschlüsse dort auf Konformität prüfen lassen.

Wie funktioniert „Cohabitation“?

„Cohabitation“ nennt man in Frankreich die Zwangsgemeinschaft zwischen Prä­si­den­t*in und Re­gie­rungs­che­f*in aus unterschiedlichen politischen Lagern.

Etwa beim Gesetzgebungsprozess hätte Macron in einer solchen Konstellation nicht mehr viel zu melden. Bevor er verabschiedete Gesetze im Amtsblatt unterzeichnet, kann er lediglich bremsen, indem er eine erneute Beratung einfordert. Als Gegenspieler der Regierung kann bei der Gesetzgebung allerdings der derzeit konservative Senat wirken, die zweite Kammer des Parlaments. Gesetzentwürfe werden in einem Pendelverfahren zwischen Senat und Nationalversammlung abgestimmt. (fzs)