Pappkameraden fürs Parlament

Händeringend werden nach den Wahlen im Osten Mandatsträger gesucht. Da hilft nur die offizielle Entrümplerin

Die Pusteblume Demokratie unter Druck (Symbolbild) Foto: reuters

Von Christian Bartel

Im Büro von Katja Schernau, die für die Landeswahlleitung von Sachsen-Anhalt arbeitet, herrscht seit Wochen riesiger Andrang. Bevor die Mandatsträger der vergangenen Kommunalwahl mit der politischen Arbeit beginnen können, muss die stellvertretende Wahlleiterin überprüfen, ob sie physisch in der Lage sind, das Amt wirklich auszuüben. Dazu muss erst einmal geklärt werden, ob es sich bei den gewählten Kandidaten um real existierende Personen, Attrappen oder um bloße Hirngespinste handelt.

„Wenn unser Amtsarzt halbwegs verlässlich Vitalzeichen oder eine rudimentäre Hirntätigkeit feststellen kann, sind wir schon zufrieden“, erklärt Schernau, die neuerdings auch als Entrümplerin arbeitet. Gerade wickelt sie einen AfD-Armleuchter mit der Nazi-Gravur „Alles für Deutschland“ in Seidenpapier. „Als Gemeinderat können wir ihn nicht zulassen“, erklärt Schernau. „Aber auf Ebay bekomme ich sicher ein hübsches Sümmchen dafür.“

Spätestens mit den Kommunalwahlen in Sachsen-Anhalt, Thüringen, Brandenburg und Baden-Württemberg hat der Fachkräftemangel auch die Politik erreicht. In Sachsen-Anhalt können insgesamt 162 Mandate nicht ausgeübt werden, weil den Parteien das politische Personal fehlt. Gerade in den östlichen Bundesländern hat der Souverän zielsicher an den verfügbaren Humanressourcen vorbeigewählt. Während geschasste Kommunalpolitiker von SPD und Linken stempeln gehen müssen, konnten rechte Parteien weit mehr Stimmen ergattern, als ihre Listen Kandidaten aufweisen. Allein die AfD kann deswegen in Sachsen-Anhalt 120 ihrer errungenen Mandate nicht mit Parteigenossen aus deutschem Fleisch und Blut besetzen. In Brandenburg sind es immerhin 40 Sitze, die laut Kommunalrecht bis zum Ablauf der Wahlperiode unbesetzt bleiben müssen.

Im Wahlkampf hatte die kaderschwache Rechte den Personalmangel trickreich versteckt, indem sie Strohmänner und Deko-Objekte, vereinzelt sogar Gefühle auf die hinteren Plätze ihrer Wahllisten eingetragen hatte. Das rächt sich nun.

„Normalerweise ist das egal, weil der Bodensatz der Listen sowieso nie ins Parlament einzieht“, erklärt Katja Schernau, weist dann aber auf einen politischen Trend hin. „Eine Celebrity-Partei wie das Bündnis Sahra Wagenknecht besteht halt nur aus der Spitzenkandidatin. Dahinter kommen nur noch Pappkameraden.“

Nicht immer ist für unerfahrene Wähler der Unterschied zwischen einer Attrappe und einem richtigen Kandidaten zu erkennen. In der baden-württembergischen ­Uhrmacherstadt Schwippsingen wurde ein stadtbekannter Kuckuck für das heimattreue Bündnis „Schwarzwoid z’ärschd“ in den Gemeinderat gewählt, doch weigert sich der Volksvertreter seither, sein Uhrgehäuse wie gewohnt zur vollen Stunde für eine kurze Ansprache an seine Wähler zu verlassen. Im anhaltischen Elendsleben wurde das „Diffuse Unbehagen“ einer lokalen Wählerinitiative zum Bürgermeister gewählt.

Nun steht dieses durchaus unangenehme Gefühl wie abgestandener Bierdunst im Magdeburger Büro der Landeswahlleitung herum, denn die Sitzplätze sind alle belegt. Auf der ledernen Couchgarnitur stapeln sich Blumentöpfe, Stroh- und Schaufensterpuppen. Ausgestopfte Tiere und Mumien warten auf ihre Begutachtung. Ein Rindvieh blättert in einer Broschüre zur politischen Bildung, dann verspeist es das Papier mit Hochgenuss, bevor der Wiederkäuer mit dem Namensschild „Dr. Friedemann Pösenitz, AfD“ sich am Hosenbein von Katja Schernau zu schaffen macht.

„Sie ahnen nicht, was uns hier als Kandidat untergejubelt wird!“, empört sich die Landeswahlleiterin und lässt ihre Peitsche knallen. Das promovierte Rindviech verzieht sich, doch das Geräusch weckt ein paar der wirklich sehr muffig riechenden Mumien.

„Lügenpresse! Systempartei! Feminazi!“, röcheln die Untoten, dann verfallen die Parteigänger der Freien Wähler wieder in ihre ideologische Leichenstarre. Offenbar handelt es sich um halb fossilierte Reichsbürger, die jäh aus ihrem Barbarossaschlaf geweckt wurden.

Aber auch diese ewiggestrigen Wiedergänger werden wohl ein politisches Amt bekleiden können, denn wie Schernau zugeben muss, wurden die Kriterien für Mandatsträger in Sachsen-Anhalt noch einmal gesenkt.

Ab sofort reicht es, wenn gewählte Kandidaten mindestens eine Zellteilung hinter sich gebracht haben. „Wir müssen wenigstens ein paar der 162 Sitze füllen, sonst verliert die repräsentative Demokratie bei den Leuten noch mehr Rückhalt“, seufzt Katja Schernau.

Ein Rudel Neonazis zieht unter lauten „Heil-hott!“-Rufen ihren Kandidaten für den Ortschaftsrat von Dessau-Roßlau durch den Flur. Es handelt sich um ein riesiges Holzpferd, in dessen Bauch sich offensichtlich weitere Neonazis verbergen. Katja Schernau setzt einen Haken in ihre Kladde: „Das kann man gelten lassen, denke ich.“