Multikulti wächst und gedeiht

Die Konferenz „Mythos Kreuzberg“ stellte den Stand der Debatte über die multikulturelle Gesellschaft dar. Tenor: Gute Erfahrungen auf lokaler Ebene stärker in die große politische Debatte einbringen

VON FLORIAN HEILMEYER

Die Adresse hätte nicht symbolhafter sein können: „Urban 21“ hieß im Jahr 1999 eine international besetzte Kommission, die im Auftrag der Bundesregierung einen „Expertenbericht zur Zukunft der Städte“ erarbeitet hatte und in diesem auch die Grundzüge des „Good Governance“ festlegte, des „guten Regierens“ also. Im Nachbarschaftshaus in der Urbanstraße 21 fand Ende vergangener Woche die von der Böll-Stiftung veranstaltete Konferenz „Mythos Kreuzberg“ statt. Zwei Tage lang konnten sich Besucher über den Stand des Diskurses über die multikulturelle Gesellschaft informieren.

Kreuzberg selbst oder sein Mythos tauchten in den Diskussionen nur am Rande auf. Nachdem sich am Donnerstag eine Diskussionsrunde mit Journalisten mit der medialen Stilisierung Kreuzbergs zu „Klein-Istanbul“ auseinander gesetzt hatte, ging die Konferenz schnell über Kreuzberg und auch Neukölln hinaus. Einig war man sich mit Detlef Ipsen, Stadtsoziologe an der Gesamthochschule Kassel, dass Deutschland „ein klares Bekenntnis braucht, Einwanderungsland zu sein und sein zu wollen. Zweitens muss es klar formulierte Bedingungen geben, die an eine Zuwanderung geknüpft werden. Drittens müssen die gewollten Einwanderer dann das Gefühl vermittelt bekommen, willkommen zu sein, und muss ihnen bei der Einbürgerung geholfen werden.“ Einig war man sich auch, dass in diesen Punkten viel versäumt wurde und dass das Verstehen der Sprache wichtigste Grundvoraussetzung für die Chancengleichheit von Migranten ist.

Interessanter, weil kontroverser war die in vielen Diskussionen präsente Debatte, wer in welchem Maße zuziehen darf. Thomas Kessler, Migrationsdelegierter des Schweizer Kantons Basel, beeindruckte mit der konsequentesten Argumentation. Wer glaubte, Migration würde in der Schweiz bedeuten, von Basel nach Zürich zu ziehen, dem erklärte Kessler, dass die Schweiz in den vergangenen fünf Jahren wegen ihrer besseren Arbeitsbedingungen und des „mediterranen Lebensgefühls“ vor allem eine massive Einwanderung aus Deutschland zu verarbeiten hat.

Die Schweiz möchte im Wettbewerb um die besten Migranten die Besten längerfristig an das Land binden. Daher verfolge man den „Potenzialansatz“. Es sei wirtschaftlich und menschlich schlicht logisch, dass der Staat dem zuziehenden „Humankapital“ helfe, Probleme bei der Eingliederung zu beheben. Die Investitionen etwa in den schnellen Spracherwerb würden sich binnen kürzester Zeit über höhere Steuereinnahmen und niedrigere Sozialausgaben rentieren.

Frage der Finanzierbarkeit

Erstaunlicherweise zog dies bei den deutschen Teilnehmern mehr die Frage nach der Finanzierbarkeit nach sich als die nach den Wertmaßstäben einer solchen Politik. Omar Nouripour, Mitglied des Bundesvorstands der Grünen, fand es „richtig, dass die Debatte ökonomisiert wird“.

Auch wenn wie oft bei Diskussionen einer politischen Stiftung die großen Gegenpositionen fehlten, wurde während der Konferenz deutlich, dass der Tenor des Diskurses in Deutschland im Wandel begriffen ist. Seit Deutschland als Einwanderungsland gilt, war die Diskussion stark auf die Probleme fixiert, die sich in einer dauerhaft multikulturellen Gesellschaft ergeben. Immer nach Ereignissen wie dem 11. September ist die multikulturelle Gesellschaft als Konzept insgesamt infrage gestellt worden. Sie ist aber eine unumkehrbare Realität, die weitgehend konfliktarm funktioniert und eine Vielzahl positiver Integrationsbeispiele produziert. Es geht also darum, so der Tenor der Konferenz, die positiven Erfahrungen auf lokaler Ebene stärker in den übergeordneten politischen Debatten darzustellen, ohne die Probleme zu leugnen.

Gleichzeitig scheint aber in der Tat eine fast unwidersprochene „Ökonomisierung“ der Zuwanderungsdebatte stattzufinden, die es kritisch zu verfolgen gilt. Hier werden Zuwanderer in nützliche und nicht nützliche Migranten unterschieden. Nicht einmal der Basler Vertreter konnte auf die Frage antworten, was mit denen geschehe, die sich trotz aller Investition nicht „rentieren“.

Da es den Gastgebern nicht um einen Schlussstrich unter aktuelle Debatten ging, fand die Veranstaltung am Samstag mit einem Open Space ein treffendes Ende. Dabei schlugen die Teilnehmer selbst Themen für Workshops vor: Wie erreicht man Chancengleichheit für Migranten? oder: Wie organisiert man ein Straßenfest? Im Ergebnis blieben diese ebenso offen wie der weitere Verlauf der Migrationsprozesse in Deutschland.

Eine Begleitbroschüre zu dem Kongress wird in den nächsten Tagen im Internet unter www.boell.de stehen