Bedingung des Erfolgs

Originalität, Strenge und Imitation: Die Geschichte der Frankfurter Schule ging nicht mit Adorno zu Ende. Jörg Später charakterisiert in seinem Buch die intellektuellen Erben

Beerdigung Theodor W. Adornos am 13. 8. 1969: in der Mitte Max Horkheimer, links Gretel Adorno Foto: Abisag Tüllmann/bpk

Von Robert Zwarg

Kritische Theorie“ mit großem oder kleinen k, „Frankfurter Schule“, „Frank­furter Kreis“ oder „Institut für Sozialforschung“, all das sind Kollektivbezeichnungen, mit denen versucht wurde, das Werk und die Wirkung von Theodor W. Ador­no, Max Horkheimer und anderen in einer über den Einzelnen hinausgehenden Perspektive auf den Begriff zu bringen.

Sie streben gleichwohl sachlich und historisch auseinander: Das kapitalisierte K legt den Schwerpunkt auf die verbindliche Programmatik, statt nur eine kritische Theorie unter anderen ins Auge zu fassen (wobei Horkheimer, auf den der Begriff zurückgeht, ihn zunächst mit kleinem k schrieb); die der Nachkriegszeit entstammende Rede von der „Frankfurter Schule“ war einerseits Fremdbezeichnung und andererseits eine Erinnerung an die von Ador­no und Horkheimer durchaus unternommenen Versuche der Traditions- und Schulbildung; und der Name „Institut für Sozialforschung“ hebt den institutionellen und wissenschaftspolitischen Rahmen hervor, in dem – oder gegen den – sich die Ideen entfalteten. Sie alle fokussieren und verdecken zugleich.

Dass sich die Verbreitungs- und Verwandlungsgeschichte der Ideen Adornos als Konflikt der genannten Denominationen erzählen lässt, zeigt Jörg Späters Studie „Adornos Erben. Eine Geschichte der Bundesrepublik“. Es handelt sich um ein materialreiches Panorama, dessen zentrale Motive die Zerstreuung und die Verwerfungen einer Tradition sind.

Die im Titel platzierte Metapher des Erbes impliziert nicht nur den Tod, in diesem Fall den Tod Adornos am 6. August 1969, mit dessen Beerdigung das Buch einsetzt. Sie evoziert auch den Streit, der sich um Hinterlassenschaften nicht selten entzündet. Bereits am Tag, als Ador­no zu Grabe getragen wurde, veröffentlichten 33 Studentinnen und Studenten des Philosophen einen ahnungsvollen Brief: „Hinter der Stilisierung Adornos zum ehemaligen Geistes­heroen wie zum politischen Verführer steht das eindeutige Interesse, kritische Theorie zu liquidieren. Dagegen werden wir deren Intention in Zukunft auch im Rahmen universitärer Institutionen weiterführen.“ Der Streit um Verwässerungen, Leerstellen oder Missverständnisse sollte fortan zum Nachleben der Kritischen Theorie dazugehören.

Späters Buch stellt 12 Schülerinnen und Schüler in den Mittelpunkt, geboren zwischen 1923 und 1937, die alle zwischen 1949 und 1962 am Institut für Sozialforschung arbeiteten oder studierten, und denen die Darstellung in sich verschiebenden Intervallen chronologisch folgt. Darunter berühmte Namen wie Jürgen Habermas und Alexander Kluge, aber auch Figuren, die bisher weniger beachtet wurden.

Solitäre wie der 2011 verstorbene Philosoph Karl-Heinz Haag, der bei Max Horkheimer promovierte und habilitierte und dessen wenige, auf der Grundlage detaillierter Kenntnis enorm verdichteten Veröffentlichungen, wie „Der Fortschritt in der Philosophie“, lange Zeit ein Geheimtipp blieben. Als das Buch 1983 erschien, hatte Haag die Universität bereits seit 12 Jahren verlassen.

Oder die Literaturwissenschaftlerin und Soziologin Elisabeth Lenk (1937–2022), die bei Adorno eine Dissertation über den Surrealismus begann, im SDS und später im Umfeld der feministischen Zeitschrift Die Schwarze Botin aktiv war und mit „Die unbewußte Gesellschaft“ (1983) ein viel zu wenig wahrgenommenes Buch über den Traum als genuine ästhetische Form geschrieben hat. Oder der leidenschaftliche Philologe Rolf Tiedemann (1932–2018), Herausgeber der Gesammelten Schriften Adornos und – gemeinsam mit dem ebenfalls vertretenen Hermann Schweppenhäuser – Walter Benjamins.

Jörg Später: „Adornos Erben. Eine Geschichte aus der Bundes­republik“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2024, 760 Seiten, 40 Euro

Die Wege von Späters Protagonistinnen und Protagonisten führten häufig weg aus Frankfurt, in die Provinz. Nach Lüne­burg, wo sich um Schweppenhäuser ein Kreis bildete, zu dem unter anderem Christoph Türcke, Eike Geisel und Wolfgang Pohrt gehörten; oder nach Hannover zu der feministischen Sozialpsychologin Regina Becker-Schmidt und dem Soziologen Oskar Negt; dorthin, wo es sich abseits der zunehmend auch stadt- und hochschulpolitisch verwerteten und domestizierten Erblast zuweilen leichter und freier denken ließ. Gleichwohl konnten diese Wege sowohl weg vom Terrain der Kritischen Theorie führen, wie bei Helge Pross, Herbert Schnädelbach und Jürgen Habermas, als auch näher an die Tradition heran, die in der etablierten Wissenschaftslandschaft zunehmend als anachronistisch und pessimistisch galt.

Durch diese Differenzen hindurch verdeutlicht „Adornos Erben“ retrospektiv vor allem die Kontingenz der Kritischen Theorie, den nicht wiederholbaren Zufall des, wie Wolfgang Pohrt über Adorno schrieb, „Staatsfeinds auf dem Lehrstuhl“ und die wenigstens zeitweise gelingende Entfaltung des „Antiinstitutionellen in der Institution“ (Oskar Negt). Zugleich zeigt das Buch, wie sehr auch die akademischen Nischen in der Provinz von hochschulpolitischen Prozessen getragen waren, die spätestens mit der neoliberalen Umstrukturierung der Universitäten zu Ende gegangen sind.

Hörbar ist ein gewisses Amusement über die Vehemenz, mit der „traditions­intern“ gestritten wurde

Was eine der Gegenwart angemessene Kritische Theorie sein könnte, ist nicht die zentrale Frage Jörg Späters, der dezidiert die Rolle des Chronisten einnimmt (das Buch beruht neben den Primärquellen auf zahlreichen Nachlassmaterialien und Interviews). Hörbar ist manchmal ein gewisses Amusement über die Vehemenz, mit der „traditionsintern“ gestritten wurde, und über die Bewunderung, die Adorno von seinen Schülerinnen und Schülern entgegengebracht wurde, die bis zur Imitation reichte.

Der Philosoph zeigte sich diesbezüglich gelassen: „Originalität ist nichts, was vom Himmel fällt, sondern entfaltet sich in einer gewissen Kontinuität.“ Gerade im Streit über diese Kontinuität setzt sich darum etwas von der Kritischen Theorie selbst fort. 1937, als das durch die Nationalsozialisten erzwungene Exil den institutionellen Rahmen höchst prekär gemacht hatte und das Schicksal des Instituts unklar war, schrieb Max Horkheimer, die „möglichst strenge Weitergabe“ der Kritischen Theorie sei eine „Bedingung ihres geschichtlichen Erfolgs“. Und bis dahin währe auch der „Kampf um ihre richtige Fassung und Anwendung“.

Wem es darum noch zu tun ist, dem sei Jörg Späters Buch empfohlen: als Chronik der Kontinuitäten und Diskontinuitäten, in den Originalität sich entfalten kann.