Kreisch!

Taylor Swift spielt die ersten Deutschland-Konzerte ihrer „The Eras“-Tour. Sie wird die Menschen berühren, ganz wortwörtlich

Swifties auf einer Swift-Party im Vorfeld des 113. Konzert von Taylor Swifts „The Eras Tour“ in Zürich Foto: Anne Morgenstern

Es gibt seit fast anderthalb Jahren ein neues Internetvideo-Genre, das von vielen heißer geliebt wird als Clips von Katzen oder anderen Tieren. Dieses Genre nennt sich „kid gets the 22 hat“ und ist eine Aufzeichnung des Moments, in dem ein im Schnitt 6-jähriges Kind von einer 34-jährigen, großgewachsenen Frau einen Hut auf den Kopf gesetzt bekommt und vor Ekstase fast umkippt. Die Frau ist Taylor Swift, die Hutkrönung ist Bestandteil der Konzerte ihrer seit dem 17. März 2023 laufenden „The Eras“-Konzerttournee, und sie ist so wholesome anzuschauen, weil sie einen perfekten Spannungsbogen hat.

Fast 100 Meter tanzt Swift während ihres Songs „22“ auf das am Ende des Bühnenstegs stehende Kind zu, über dessen Gesicht in diesen zwei Minuten fast jede Emotion einmal huscht. „Everything will be alright if we just keep dancing like we’re 22“, singt Swift in diesem Lied, obwohl für sie 22 sein eine Weile her und für das Kind eine Weile hin ist – trotzdem fühlen’s beide gleichermaßen. Am Bühnenende angekommen kniet Swift sich zum Kind runter, legt das Mikro zur Seite, man fällt sich in die Arme, Freundschaftsbänder und Komplimente werden ausgetauscht, zum Schluss kriegt das Kind den etwas zu großen Hut, den die Sängerin vorher trug. Swift wirkt dabei jedes Mal ehrlich entzückt darüber, schwitzige Kinderhände zu halten und sich von nervösen Erstklässlern ins Ohr schreien zu lassen.

Man hat sowieso das Gefühl, dass sie sich alle Mühe gibt, in der über dreistündigen Show jederzeit voll anwesend zu sein. Natürlich weil 80.000 Menschen zugucken und mitfilmen und Taylor Swift das in den 20 Jahren ihrer Karriere so gelernt hat. Aber auch weil die Verbindung mit dem Publikum, diese allabendliche vermeintlich einzigartige Intimität ihr unique selling point als Popstar ist. 114 Shows hat sie auf der „The Eras“-Tour mittlerweile absolviert, nie hält sie die gleiche Ansprache zweimal, jedes Konzert hat ein Akustikset mit immer wechselnden, teilweise auf die Stadt/das Wetter/den Feiertag abgestimmten Überraschungsmedleys. Wenn sie beteuert, an keinem Ort gerade lieber zu sein, als in Tokio, Rio de Janeiro, Sydney oder Paris, glaubt man ihr das.

Nun also Deutschland. Taylor Swift macht Halt in Hamburg, München, zuerst aber vom 17. bis 19. Juli in Gelsenkirchen, ausgerechnet (mehr dazu auf Seite 47), und die Frage steht im Raum, ob sie dort als Überraschungssongs eine Kombination aus „I hate it here“ und „Is it over now?“ bringen könnte. Ist natürlich Quatsch, am Ende wird’s sowieso „You’re on your own, kid“ – Swifts meistgespielter surprise song – weil das Publikum diese Hymne ans Aufwachsen so liebt und vielleicht ja auch weil Gelsenkirchen und das Ruhrgebiet, quasi der Rust Belt von Germany, Taylor Swift ein bisschen an Zuhause erinnern. An Pennsylvania, wo sie ihre Kindheit verbrachte.

Und dann singen Tausende Sechsjährige mit ihren Müttern an den Händen: „You’ve got no reason to be afraid / You’re on your own, kid / Yeah, you can face this / You’re on your own, kid / You always have been.“ Und eine von ihnen trägt einen Hut, den sie vielleicht irgendwann für viel Geld auf Ebay verkauft, weil sie nicht mehr daran hängt. Aber nicht jetzt. Jetzt muss sie erst mal reinwachsen. Leonie Gubela