debatte
: Ungeteiltes Risiko

Die Konfrontation mit Russland darf durch offensive Rüstungsmaßnahmen der Nato ohne einen stabilisierenden Dialog nicht noch verschärft werden

Die amerikanisch-deutsche Erklärung zur Stationierung von neuen konventionellen Langstreckenwaffen (M6-Raketenabwehrsysteme, Tomahawk-Marschflugkörper und Hyperschallgleiter) erscheint auf den ersten Blick nachvollziehbar zu sein.

Die Bundesregierung hat die ab 2026 zunächst „episodisch“ und später dauerhaft vorgesehene Stationierung in bisherigen Äußerungen mit einer „Fähigkeitslücke“ begründet. Russland besitzt in der Tat ein bedrohlich großes und breit gefächertes Potenzial an Kurz- und Mittelstreckenraketen einschließlich Hyperschallwaffen und Marschflugkörper. Eine Reihe dieser Waffen können sowohl mit konventionellen als auch mit atomaren Sprengköpfen eingesetzt werden. Die Nato-Staaten verfügen auf europäischem Boden bis auf luftgestützte Marschflugkörper keine vergleichbaren Raketensysteme. Washington hat diese Raketenstationierung in Deutschland bereits seit Jahren geplant und 2021 eine Taskforce für Führung und Einsatz dieser Systeme in Wiesbaden aktiviert. Die Bundesregierung hat der Statio­nierung nunmehr offiziell zugestimmt. Die Tragweite dieser Entscheidung ist gravierend und erfordert eine umfassende Begründung, vor allem hinsichtlich der Implikationen für Deutschland.

Denn Russland wird aller Wahrscheinlichkeit nach als Reaktion eine noch größere Zahl seiner nuklearfähigen Mittelstreckenraketen in Kaliningrad und in Belarus stationieren, insbesondere unmittelbar gegenüber Polen und den baltischen Staaten, auch in Kaliningrad und in Belarus. Eine Verschärfung der Lage an der Konfrontationslinie zwischen der Nato und Russland wäre die Folge und wird gegebenenfalls zu weiteren Rüstungsschritten auf der westlichen Seite führen.

:

Helmut W. Ganser

ist Brigadegeneral a. D. sowie Diplompsychologe und Diplompolitologe. Er war Stellvertretender Leiter der Stabsabteilung Militärpolitik im Verteidigungsministerium Berlin sowie militärpolitischer Berater der deutschen Ständigen Vertreter bei der Nato in Brüssel und den Vereinten Nationen in New York.

Warum wird die Stationierung aber nicht im Nato-Rahmen vorgenommen, wie dies im Sinne einer Risiko- und Lastenteilung etwa bei der nuklearen Teilhabe der Fall ist? Bisher ist nicht erkennbar, dass irgendein anderer Bündnispartner bereit ist, diese Waffensysteme auf seinem Territorium zu dislozieren und die damit verbundenen Risiken einzugehen. Deutschland wäre im Kriegsfall aufgrund seiner geografischen Lage und Funktion als zentrale Drehscheibe für Aufmarsch und Logistik zur Verteidigung der Nato-Ostflanke ohnehin bereits in erheblichem Maße durch russische Mittelstreckenraketen bedroht. Darüber hinaus würden in einem Krieg an der Ostflanke die amerikanischen bodengebundenen Mittelstreckensysteme durch die russischen Streitkräfte mit allerhöchster Priorität aufgeklärt und bekämpft werden. Deutschland verfügt zudem auf viele Jahre hinaus über keinen nennenswerten Zivilschutz und ist gegen Raketenangriffe hoch verwundbar. Eine flächendeckende Raketenabwehr ist unrealistisch.

Im Gegensatz zur atomaren Nachrüstung der Nato in den frühen 1980er Jahren (Doppelbeschluss) ist die Stationierungsentscheidung nicht mit einem Rüstungskontrollvorschlag zur Ver­ringerung des russischen Raketenpoten­zials verknüpft worden. Dies mag zwar angesichts des russischen Angriffskriegs in der Ukraine als schwierig erscheinen. Andererseits hat die Nato in der Gipfelerklärung von Washington ihre Bereitschaft zur Rüstungskontrolle und Abrüstung bekräftigt.

Die gravierendsten Folgen der Raketenstationierung, insbesondere der Hyperschallwaffen in Deutschland, liegen in den Auswirkungen auf die künftige nuklearstrategische Stabilität zwischen den atomaren Supermächten USA und Russland. Von dieser Balance hängt auch die deutsche und europäische Sicherheit ab. Die USA könnten in der russischen Wahrnehmung aufgrund der Reichweite, Zielpräzision und eventuell bunkerbrechenden konventionellen Sprengkraft dieser neuen Waffensysteme von Deutschland aus strategische Atomwaffen, die in den westlichen Bezirken Russlands stationiert sind, mit kurzen Flugzeiten ausschalten. Die USA würden solche Angriffe zwar nicht führen, weil dies in einen großen Atomkrieg zwischen beiden Mächten münden würde. Aber allein diese Angriffsoption wäre destabilisierend und gefährlich, weil Russland im permanenten Alarmzustand verharren würde und weil Fehlalarme im schlimmsten Fall zum Start von Atomraketen führen können. Überdies muss wohl davon ausgegangen werden, dass mit der Stationierung der Marschflugkörper und Hyperschallgleiter eine Verlängerung des 2026 auslaufenden New-Start-Vertrags mit Obergrenzen für die strategischen Atomwaffen beider Seiten unmöglich wird.

Die Bevölkerung wird so im instabilen Zustand prekärer Sicherheit verharren, heikler als im Kalten Krieg

Als Fazit kann festgehalten werden: Der Aufwuchs militärischer Kräfte zur Abschreckung und zur Verteidigung der Ostflanke der Nato ist angesichts der russischen Aggression unabdingbar. Zugleich darf die bereits vorhandene Konfrontation zwischen Russland und der Nato nicht noch durch offensive Rüstungsmaßnahmen ohne einen begleitenden stabilisierenden Dialog verschärft werden. Ob die angekündigte Stationierung von Mittelstreckenwaffen in Deutschland die deutsche Sicherheit tatsächlich stärkt, muss noch überzeugend begründet werden. Dies hängt letztlich von Annahmen über die psychologische Abschreckungswirkung auf die Machthaber im Kreml ab. Also von Annahmen, bei denen Fehleinschätzungen leicht möglich sind. Es könnte sich als Trugschluss erweisen, unsere Sicherheit auf viele Jahre hinaus allein auf Abschreckung und Kriegstüchtigkeit zu stützen. Die Bevölkerung wird so im instabilen Zustand prekärer Sicherheit verharren, heikler als im Kalten Krieg. Frieden wird so zur Utopie. Wir haben uns im amerikanisch-deutschen Tandem Schritt für Schritt auf einen ungesicherten Pfad begeben, einen Pfad der irreversiblen Konfrontation mit Russland, ohne zu wissen, wo uns das am Ende hinführt und wie lange die Regierenden noch die Kontrolle über die weitere Konfrontation in der Hand behalten. Immer weiter ins Risiko zu gehen, ist auch politisch-moralisch fragwürdig.