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Zugegeben, der Vergleich mit Johnny Cash ist gnadenlos, wer aber heute Musik macht und nicht völlig hinter dem Mond lebt, sollte wissen, welcher Referenzrahmen in den letzten Jahrzehnten Populärmusik gesetzt wurde.

Aber von vorn: Es gab einmal zwei, nun ja, nette Deutschpopbands, die mit ein bisschen Gitarre, ein bisschen Beat und ein bisschen Text im Independentsegment reüssieren wollten. Dann unterschrieben die einen (Karpatenhund) bei Virgin einen Plattenvertrag und drehten ein Video mit Benjamin Quabeck. Letzterer hat übrigens ein Faible für Rennautos (das ist keine reine Kolportage jetzt, sondern bereits Teil der Pointe). Die andere Band (Virgina Jetzt!) unterschrieb einen Vertrag bei BMG, nicht ohne vorher erfolglos am deutschen Vorausscheid zum Eurovision Songcontest teilgenommen zu haben.

Aufstrebenden Künstlern ist ja gerne ein gewisses bürgerschaftliches Engagement zu eigen, Karpatenhund und Virginia Jetzt! haben ihre Berufung auf Einladung des Bundesministeriums für Verkehr gefunden und spielen Sonntagnachmittag für die Kampagne „Runter vom Gas“ (www-runter-vom-gas.de), die in Ermangelung staatlicher Programme zur wirksamen Verringerung des motorisierten Individualverkehrs dafür wirbt, wenigstens nicht gar so viele Leute im Straßenverkehr umzubringen. Wow. Ein Konzert vorm Verkehrsminister. Respekt.

„Aber auch Cash hat vor staatlichen Institutionen gespielt.“ Stimmt. Unter anderem stieß er Richard Nixon 1972 im Weißen Haus damit vor den Kopf, dass er die vorgegebene Setlist ignorierte und sein politisches Statement (eher „Nicht so, Nixon“) zum Besten gab. Auch einigen anderen amerikanischen Präsidenten sang er auf diese Weise ins Gewissen. Nebenbei: immer nach den Wahlen, nicht direkt davor. Karpatenhund und Virginia Jetzt! können natürlich nichts dafür, dass ihnen nur Wolfgang Tiefensee angeboten wird. Dass sie jedoch annehmen … Vielleicht wagen sie sich ja demnächst noch in die Jugendstrafanstalt Plötzensee, quasi als Hommage an Cashs legendäre Gefängniskonzerte. Ob sie mit ihren eher seichten Texten, ohne die Würde Cashs und vor allem ohne seinen Charakter dort bestehen könnten, ist fraglich.

Wie gesagt, der Vergleich ist nicht fair, der Referenzrahmen aber steht: Johnny Cash war der Beweis, dass ein kommerziell erfolgreicher Künstler durchaus politisches und menschliches Engagement fernab von so biederen wie nutzlosen Verkehrserziehungsversuchen an den Tag legen kann; legen muss sogar, will er ein zeitloses Werk schaffen. Ach, wollen die gar nicht? Ja dann … DANIÉL KRETSCHMAR