Die multikulinarische Brigade

Im Restaurant Instroom in Antwerpen kann man sehr gut essen. Die Köche und Kellner sind vor Krieg, Terror und Verfolgung geflüchtet. Unter der Regie von Küchenchef Seppe Nobels servieren sie Gerichte mit Anklängen an ihre Heimat

Aus Antwerpen Bernd Müllender

Die Königliche Kunstakademie von Antwerpen ist ein prachtvoll neoklassizistischer Bau, ganz in strahlendem Weiß. Bis heute werden hier Kunstschaffende ausgebildet. Wir sind indes zum Essen hier, denn am Abend wird die Kantine der Akademie zum Restaurant Inst­room. Und an diesem Abend beginnt das Dinner mit einem kleinen Stehempfang für unsere 16-köpfige Gruppe – die Teilnehmenden der taz-Leser:innen-Reise Belgien – inmitten der langen Gänge des Gebäudes. Überlebensgroße Büsten schauen zu, wie knusprige, kräutersatte Amuse-Gueules und ein Sekt-Aperitif serviert werden. Man ahnt die fehlende Routine der beiden Servicekräfte, dafür aber sind sie überaus engagiert bei der Sache. „Noch ein Glas?“

Danach werden wir an die Tische geleitet. Wir wandeln durch die Gänge rund um den Innenhof mit den mächtigen Rotbuchen, den verwilderten Gartenstücken und Statuen wichtiger Menschen aus dem Irgendwann. Aus einem der Räume begleitet uns ein leises metallisches Hämmern, hier arbeiten angehende Silberschmiede an ihren Semesterobjekten.

In der offenen Kantinenküche eilen die jungen MitarbeiterInnen zwischen Pfannen und Töpfen hin und her. Die meisten von ihnen stammen aus Syrien, Eritrea und Nepal, aus Pakistan, Irak und der Ukraine. Einer von ihnen versucht unter Anleitung eine lindgrüne Gemüsepaste aus einem Sahne-Spritzbeutel auf die Menüteller zu tupfen. Es gelingt. Er lächelt erleichtert.

Beinahe das gesamte Küchen- und Service-Team des Instroom besteht aus Menschen, die kürzlich noch vor Krieg, Folter und Verfolgung geflohen sind. Jetzt kochen sie in Antwerpen. Und präsentieren ihre Kreationen direkt am Tisch. Als Vorspeise serviert ein Thai eine Bowl seiner Heimat, ergänzt mit Spargelstücken a point gegart, mit Radieschen, Bergen von Kräutern, einem Häuflein Kaviar und einer hartgekochten Wachteleihälfte. „Zeer lekker“, sagt er auf niederländisch. Finden wir auch.

An der Seitenwand der Kantine, zwischen zwei mächtigen Säulen, fällt ein riesiges Foto auf: Zwei Frauen und sechs Männer mit weißem Hemd und weißer Kochschürze inszeniert als Stillleben in einem großen Rettungsboot. Einer der Männer, in ironischem Heldengestus den Blick nach schräg oben Richtung Unendlichkeit gerichtet, ist „Le Chef“, Restaurantinhaber Seppe Nobels, 41.

Nobels galt in den 2010er Jahren als versiertester Gemüsekoch Belgiens, er zauberte mit lila Blumenkohl, Nordsee-Algen und weitgehend vergessenen Gewächsen, Sprossen und Blüten, großteils selbst bioangebaut. Dann kam Corona. Nobels schloss sein edles Restaurant Graanmarkt 13 in Antwerpen und hatte eine bessere Idee anstelle der banalen Sterne­gastro­nomie.

Warum nicht das weltumspannende Wissen um authentische ländertypische Küchen nutzen? Das kam ja mit den vielen Flüchtenden wie von selbst nach Europa, auch nach Belgien, auch in die Nachbarschaft. Und so ging Nobels mit ein paar Dolmetschern in eine Flüchtlingsunterkunft in Antwerpen und hörte sich um, oft bei verschüchterten Menschen, die erst ein paar Wochen in dieser ihnen fremden Welt waren.

„Was hat Ihre Mutter am liebsten gekocht?“, mit dieser Frage fing Nobels gerne an. Dann, berichtet er, habe es meist begeisterte Erzählungen gegeben. Und man habe überlegt, was wohl alles zum Rezept gehört haben könnte. Eine Afghanin habe ihm gleich beim ersten Treffen erzählt, sie sei sehr kundig mit Kräutern aller Art. „Und als sie bei uns arbeitete, ging sie oft durch Wiesen und Wälder und brachte die tollsten Sachen mit.“

„Was hat Ihre Mutter am liebsten gekocht?“, mit dieser Frage fing es an

Bloß: eine reguläre Lehre dürfen Personen mit ungeklärtem Asylstatus auch in Belgien nicht machen. Nobels verhandelte mit der Stadtverwaltung, bis man ihm außerhalb aller Üblichkeiten eine vier Monate dauernde Koch-Akademie für Geflüchtete genehmigte. Dann legten sie los, entwickelten und verfeinerten gemeinsam Rezepte, belgisch variierte Gerichte entstanden.

Für die vier Monate, in denen die Geflüchteten im Instroom arbeiten, erhalten sie 420 Euro im Monat – in Belgien das Limit für Menschen mit ungeklärtem Asylstatus. Dazu gibt es Sprachkurse in kleinen Gruppen, Abhol- und Bringservice zur Unterkunft, auf Wunsch ersatzweise ein Fahrrad. Seppe Nobels übernimmt auch die Kosten für psychotherapeutische Unterstützung nach Fluchttraumata und anwaltliche Beratung bei Problemen mit den Ämtern.

2021 ging die „multikulinarische Brigade“, wie Nobels sie nennt, an den Start, die ersten beiden Jahre in einer weiß getünchten, renovierten Lagerhalle im Hafengebiet. Schnell sprach sich das herum, oft musste und muss man Wochen im Voraus buchen. Auch der belgische König ließ sich samt Entourage im Sommer 2022 blicken. Es soll ihm sehr gemundet haben.

Durch die vergleichsweise geringen Personalkosten kann das Instroom mehr Menschen beschäftigen als vergleichbare Restaurants. Und so treten immer wieder neue Leute an die Tische. Eine Frau aus Chile, an diesem Tag mit ihren guten Englischkenntnissen so etwas wie die Chefkellnerin, kündigt jetzt den Hauptgang an: Gedünsteter Seebarsch mit Kräutermix und Senfkörnern auf Linsenpüree, serviert von einem jungen Venezolaner, zubereitet gemeinsam mit einem türkischen Kollegen. Insbesondere das feinwürzige Püree ist eine Wonne.

Mittags kochen die Geflüchteten hier in kleinerer Besetzung für die StudentInnen. Dann ist das Instroom eine Mensa. Abends kostet das 5-Gang-Menü 55 Euro und wechselt im Wochenrhythmus. Mancher Gang ist spezifisch aus dem Fluchtland, oft sind die Rezepte crossover. Beim taz-Reisegruppen-Besuch im Vorjahr gab es etwa eine Lammkarbonade, deren himmlische Soße mit Gewürzen und Kräutern aus allen Schurkenstaaten dieser Welt zubereitet zu sein schien.

Als Dessert serviert eine Iranerin ein Rechteck fluffigen Reiskuchen, dazu eine Kugel Joghurteis, feuerrote Erdbeeren, Pfefferminzblätter, Rosenwasser, Safran, Mandelsplitter. Ein Gedicht! Einziges Manko des Abends: Die Akustik in der Akademie-Kantine ist unterirdisch. Dafür kommt der abschließende alte Genever derart üppig eingefüllt, dass er auch als kleiner Wein durchgehen könnte.

Hoher Besuch im Instroom: Belgiens König Philippe, begrüßt von Küchenchef Seppe Nobels (links) und einem Mitarbeiter Foto: belga/imago

Eine aus unserer Gruppe bittet um ein zweites, leeres Glas, zum Teilen. Der junge Kellner hat sie nicht richtig verstanden und bringt ein zweites volles Glas an den Tisch. Kein Wunder bei dem Stimmgewirr und den vielen Sprachen im Raum.

Lakonische Bemerkung einer Tischnachbarin: „Er hat die Aufgabe halt zurückgegeben. Wir müssen das Glas leeren.“ Na dann „Proost op je Gezondheid“, wie man in Flandern sagt.

Wo wir gerade bei Flämisch sind: Instroom heißt übrigens so viel wie Hineinströmen, es ist der Kampfbegriff flämischer Populisten, ähnlich der deutschen „Ausländerflut“. Seppe Nobels hat den Begriff umgedreht: Kochwissen strömt ein, mit Rezepten und besonderen Kunstfertigkeiten am Herd. Und die Geflüchteten können ein wenig ihrer Esskultur in die neue Heimat retten, ein kleiner Anker.

Viele aus den ersten beiden Jahren im Instroom sind mittlerweile im ersten Arbeitsmarkt gelandet: die meisten in der Gastronomie. „Aber wissen Sie“, sagt Seppe Nobels, „was das Wichtigste für all die Menschen ist? Alle sagen: Dass wir hier im Instroom eine große neue Familie gefunden haben.“ Zusammengeströmt von überall.