KEINE FRÜHLINGSGEFÜHLE, WÄHREND DIE GERMAN GUYS IMMER DIE GLEICHE FRAGE STELLEN
: Ostern mit Mandeln

JÖRG SUNDERMEIER

Donnerstag, Flittchenbar. Christiane Rösinger leitet gewohnt unaufgeregt durch den Abend, viele trinken etwas, einige trinken mehr. In meinem Hals schwellen die Mandeln, die, passend zur Großwetterlage, den Frühlingsgefühlen den Garaus machen wollen – ich lasse sie nicht gewinnen. Das Bier kühlt die Schwellung nur kurz. Auf der Bühne Half of Half Girl, mit schön irritierenden Coverversionen, auch Normal Love, die Nachfolgeband von Rhythm King and her Friends, deretwegen viele gekommen sind, kann überzeugen. Das Ereignis aber ist Tonia Reeh, die man in Berlin als Monotekktoni kennt und die nun allein mit Stimme und Klavier den ganzen Saal ausfüllt, all die Rumsteherinnen und Plauderer übertönt, sich den Raum nimmt, den ihr jene, die immer schon alles wissen, nicht lassen wollen. Tonia Reeh erschreit sich Aufmerksamkeit, nun hören auch jene zu, die nur gesehen werden wollten.

Nach den Kurzkonzerten der Flittchen-Frühlingsgala kehre ich noch kurz in der Palomabar ein, die „Wanddurchbruch“ feiert. Jetzt ist der kleine Raum doppelt so groß, doch es sind, wie immer, mehr Leute gekommen, als der Raum fassen kann. Das merke ich mir für ein anderes Mal, denn die Mandeln machen sich stärker bemerkbar.

Der Freitag sieht mich krank, die letzten Stunden des Tages verdämmere ich mit Paracetamol vor dem DVD-Player. Die späte SMS von S. sehe ich erst am nächsten Tag – sie hat begeistert die Rockformation Diskokugel im Zosch gesehen, die ihr Album „The Boy With The Zorn In His Side“ vorstellten. Das habe ich also verpasst. Meine Mandeln loben mich. Ich hasse meine Mandeln.

Vor dem Fenster sehe ich an diesem Ostersamstag Schnee. Das passt zu meiner von Tabletten mühsam im Zaum gehaltenen Erkältung. Ich werfe mich todesmutig in die Winterwelt, nur um nichts geschafft zu kriegen. Hernach Essen in der WG, R., meine Mitbewohnerin, hat bolivianisch gekocht, ziemlich scharf. Das scheint die Mandeln zu besiegen. Ich atme auf und direkt danach regelmäßig ein und aus.

Am Sonntag wage ich mit K. einen mittäglichen Spaziergang am Schlachtensee, die Sonne scheint. Götz George kommt uns entgegen, er sieht viel jünger aus, als er ist. Wir ziehen zur Krummen Lanke weiter, doch die liegt stärker im Schatten, nun ist es wieder sehr kalt. Es bleibt dabei, der Winter hat sich diese Woche zurückerobert. Wir gehen durch den Wald Richtung U-Bahn und durchqueren dabei eine merkwürdige Waldsiedlung. Die Häuser hier sind aus den dreißiger Jahren, sie sehen noch immer gleich aus. Die Fensterläden stehen offen, dennoch wirken die Häuser unbewohnt, auch wenn alle Rasenflächen in den kleinen Gärten gleichermaßen akkurat geschnitten sind. Uns begegnen keine Menschen, während wir durch diese Siedlung gehen, uns wird kalt. Meine Mandeln melden sich zaghaft zurück. An der Hauptstraße angekommen, erfahren wir, dass wir gerade eine frühere SS-Kameradschaftssiedlung hinter uns gelassen haben.

Die Mandeln mandeln auch beim anschließenden Kaffeetrinken bei B., doch der Schreck über die fürchterliche Siedlung ist größer, er lenkt von der Erkältung ab. Abends geht es daher noch ins Gift, dort wird schöne flächige Synthesizer-Musik gespielt, wir sind ganz begeistert. Als ich frage, was das ist, ist es Tangerine Dream. „Shit“, sage ich. Der englischsprachige DJ lacht und erklärt mir, dass jedes Mal, wenn er Tangerine Dream spielt, ein „german guy“ komme, nach der Musik frage und „shit“ sage, wenn der Name der Band genannt sei. Ich fühle mich ertappt. Schon melden sich die Mandeln wieder. Wo sind die Tabletten?