Sport in 100 Jahren: Die Emotionen kochen hoch
In der Zukunft wird Fußball zur Randsportart. Für Hysterie im Stadion gibt es etwas Neues: Gedichte.
A lle gucken gerade die Fußball-Europameisterschaft. Früher war es noch lustig, an einem Spieltag der deutschen Nationalmannschaft durch menschenleere Straßen zu spazieren. Heute erinnert mich das zu sehr an den ersten Corona-Lockdown. Also gucke ich notgedrungen mit. Außerdem bin ich an einem Tippspiel von ein paar Kolleg*innen beteiligt und habe gute Chancen auf den Sieg. Die steigen ins Unermessliche, als Felix aus dem Jahr 2124 mich besucht. Natürlich stelle ich meinem zeitreisenden Freund erst Butterbrot und Bier auf den Tisch, bevor ich die alles entscheidende Frage stelle:
„Wer gewinnt eigentlich die EM?“
„Keine Ahnung“, nuschelt er mit vollem Mund und hebt entschuldigend die Arme. „Aber bevor du fragst: Ja, es wird bei uns noch Fußball gespielt, aber das ist eher eine Randsportart und lange nicht so erfolgreich wie Agosentis. Das ist der Hit!“
Seine Augen beginnen zu leuchten, die halb aufgegessene Semmel auf seinem Teller ist plötzlich nicht mehr so wichtig. „Stell dir vor, du siehst den besten Athlet*innen der Erde dabei zu, wie sie in einem gnadenlosen Parcours gegeneinander antreten. Nur die Besten kommen überhaupt ans Ziel. Aber dann, wenn sie sich körperlich völlig verausgabt haben, kommt erst der Höhepunkt des Wettkampfs: Sie müssen innehalten und dem Publikum ein Gedicht vortragen.“
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
„Wieso das denn?“
Er seufzt. „Du kannst dir vorstellen, dass wir mit Turbokapitalismus, Digitalisierung und KI jede nur erdenkliche Art von Sport-Entertainment durchgespielt haben. Und je besser wir darin geworden sind, große Spektakel zu inszenieren, desto abgestumpfter wurden wir. Was die Menschen aber immer fasziniert, sind andere Menschen und ihre Emotionen. Deshalb ist es die Aufgabe der Athlet*innen, beim Publikum mit einem Lied oder einem Text oder einer Performance so starke Gefühle wie möglich hervorrufen.“
Sensoren messen den Hormonspiegel im Schweiß und registrieren Muskelzuckungen in Gesichtern
„Und wie will man das feststellen?“
„Über im Stadion angebrachte Sensoren. Die messen etwa den Hormonspiegel im Schweiß oder analysieren die Atemluft. Außerdem registrieren sie Mikromuskelzuckungen in den Gesichtern. Und wenn die Leute jubeln, weiß jeder, was los ist. Bei internationalen Wettkämpfen werden Spitzenwerte einer Massenhysterie erreicht. Im legendären Endspiel von 2078 hat Harkan der Herzensbrecher über zweihundertfünfzig Fans in Ohnmacht gesungen. Die Geschichte, die Senex Enoui bei ihrem letzten Auftritt erzählt hat, war so traurig, dass sich in den folgenden Tagen 38 Prozent der Zuschauer*innen wegen depressiver Episoden krankschreiben ließen – seitdem gibt es eine Obergrenze für den Cortisolspiegel bei traurigen Geschichten. Legendär ist auch die sechsfache Weltmeisterin Athena Brown. Sie hat ihre Hater mit einer Publikumsbeschimpfung so in Rage versetzt, dass sie die Ostkurve des Berliner Olympiastadions zum Einsturz gebracht haben. Absoluter Wahnsinn.“
„Klingt so. Und irgendwie auch eher nach Theater als nach Sport. Warum müssen sich die Athlet*innen denn vorher überhaupt so verausgaben?“
„Das hat historische Gründe. Für Sportveranstaltungen bekommen die Vereine mehr Fördergelder als für Kultur, und die Leute zahlen mehr Eintritt. Außerdem haben die Zuschauer*innen ausreichend Zeit, Bratwurst und Bier zu kaufen oder sich überteuerte Fanartikel andrehen zu lassen. Sonst verdienen die Vereine und Sponsoren ja kein Geld.“
„Das kommt mir bekannt vor. Also alles wie bei uns.“
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