Die rechten Vorleser

Die Neue Rechte zeigt großes Interesse an Romanen – und hat dabei vor allem metapolitische Hintergedanken. Die Strategie besteht darin, Literatur zu benutzen, um eine Verschiebung des kulturellen Diskurses zu erreichen

Die Neue Rechte konzentriert sich gegenwärtig darauf, Einfluss im Bildungsbetrieb zu gewinnen. Bibliothek der Germanistik in Leipzig Foto: Tim Wegner/laif

Von Torsten Hoffmann

Keine andere politische Strömung hat sich in den letzten zwanzig Jahren so intensiv mit Literatur beschäftigt wie die Neue Rechte. Insbesondere der Kreis um das Ehepaar Götz Kubitschek und Ellen Kositza bespielt aus Schnellroda eine Vielzahl von Medienformaten, in denen Gedichte empfohlen, Romane besprochen und (meist männliche) Autoren diskutiert werden. Klassische Rezensionen und Autorenporträts finden sich in der Zeitschrift Sezession, in 90-minütigen Videogesprächen stellt Kubitschek gemeinsam mit dem Historiker Erik Lehnert Schriftsteller wie Gottfried Benn oder Jochen Klepper vor, während Kositza gemeinsam mit der Dresdner Buchhändlerin Susanne Dagen und jeweils einem Gast in der Sendung „Aufgeblättert. Zugeschlagen. Mit Rechten lesen“ im Stil der ZDF-Sendung „Das literarische Quartett“ seit 2018 über Bücher diskutiert – darunter zahlreiche Neuerscheinungen, die sich nicht dem rechten Spektrum zurechnen lassen.

Ähnliches findet man auch außerhalb von Schnellroda: Der Jungeuropa Verlag betreibt den Podcast „Von rechts gelesen“ (dessen literarisches Spektrum von Ernst Jünger bis zu „Harry Potter“ reicht), die Szene-Zeitschrift Tumult enthält die Lyrik-Rubrik „Landschaften“, in der Ulrich Schacht dem norwegischen Rechtsterroristen Anders Breivik ein Langgedicht widmen durfte, das die Ermordung von 77 Menschen zu einer mythischen Tat in der Tradition des griechischen Gottes Dionysos verklärt.

Ein Kernanliegen der Neuen Rechten besteht darin, sich um eine Intellektualisierung des Rechtsextremismus zu bemühen – dabei spielt Literatur eine zentrale Rolle. Eingebettet ist all das in eine metapolitische Strategie. Angelehnt an den italienischen Kommunisten Antonio Gramsci und den US-amerikanischen Politologen Gene Sharp geht es der Neuen Rechten nicht um kurzfristige Wahlerfolge rechter Parteien (mit denen man gleichwohl intensiv kooperiert), sondern um eine mittelfristige Rechtsverschiebung des kulturellen Diskurses. Wer das politische System nachhaltig verändern möchte, so die Grundüberzeugung, muss dafür zunächst die geistige Basis schaffen, also Einfluss im vorpolitischen Raum von Kneipen und Schulen, Internet und Social Media gewinnen.

Um dabei erfolgreich zu sein, empfiehlt Kubitschek in einem Sezessions-Artikel von 2017 mit dem bezeichnenden Titel­ „Selbstverharmlosung“ drei unterschiedliche Strategien. Die erste besteht in einer „Schaffung neuer Gewohnheiten“: Eine allmähliche Rechtsverschiebung des privaten und öffentlichen Sprechens soll dadurch erreicht werden, dass man immer wieder und immer weiter provozierend vorstößt in die „Grenzbereiche des gerade noch Sagbaren und Machbaren“. Wenn Martin Sellners Vorstellungen von „Remigration“ aus dem Potsdamer „Geheimtreffen“ heraus an die Öffentlichkeit gelangten, ist das aus metapolitischer Perspektive kein Unfall, sondern ein Glücksfall. Ob geplant oder nicht: Für die Popularität des Konzepts und die Verkaufszahlen des kurz darauf in Kubitscheks Antaios Verlag erschienenen Sellner-Buchs „Remigration“ waren die Enthüllungen zweifellos förderlich.

Die zweite Strategie wird von Kubitschek als „Verzahnung“‚ bezeichnet. Sie zielt darauf ab, radikale Positionen salonfähig zu machen, indem man „auf Sprecher aus dem Establishment verweist, die dasselbe schon einmal sagten oder wenigstens etwas ähnliches“. Besonders geeignet sind dafür Zitate linker und/oder jüdischer Personen – so berief sich Sellner in seiner Verteidigung der ausländerfeindlichen Sylter Vorgänge ausgerechnet auf Hannah Arendt. Kubitschek ist überzeugt, dass Prestigegewinne nicht so sehr von Verbotsverfahren verhindert werden, sondern vor allem von einer „emotionalen Barriere“, die man in traditio­nell konservativen Kreisen gegenüber der extremen Rechten noch empfindet. Zur Auflösung dieser Barriere empfiehlt er drittens eine strategische „Selbstverharmlosung“, also „die Vorwürfe des Gegners durch die Zurschaustellung der eigenen Harmlosigkeit abzuwehren und zu betonen, daß nichts von dem, was man fordere, hinter die zivilgesellschaftlichen Standards zurückfalle“. Man muss Kubitschek nicht böswillig interpretieren, sondern einfach nur lesen, um zu verstehen, worum es der Neuen Rechten eigentlich geht: zivilgesellschaftliche Standards abzuschaffen. Zu dieser Einsicht ist nun auch das Bundesamt für Verfassungsschutz gekommen, das den Antaios Verlag seit Juni als „gesichert rechtsextrem“ einstuft.

Alle drei von Kubitschek empfohlenen Strategien prägen die neurechte Literaturpolitik. Denn gerade das Widersprüchliche, das im Zugleich von Selbstverharmlosung und schleichender Radikalisierung liegt, lässt sich mithilfe von Literatur besonders gut in den kulturellen Diskurs einspeisen. Auf Sympathiegewinne außerhalb der eigenen Kreise zielt etwa das von Kositza gemeinsam mit Caroline Sommerfeld verfasste und vergleichsweise harmlose Buch „Vorlesen“ (2019), das Dutzende Kinder- und Jugendbuchklassiker als hilfreich für die Persönlichkeitsentwicklung empfiehlt, Vorlesen als eine „Unterform des Kuschelns“ versteht („es geht am besten auf dem Schoß, auf dem Sofa und im Bett“) und mit seiner Kritik an der Nutzung digitaler Medien in bildungsbürgerlichen Kreisen offene Türen einrennt. Auch das neurechte Interesse an ironischer Popliteratur von Christian Kracht oder Leif Randt erzeugt Schnittmengen mit nichtrechten Lesekulturen und Stilgemeinschaften.

Wie sich literarische Texte – auf der anderen Seite – für eine Rechtsverschiebung des Sagbaren einsetzen lassen, zeigt etwa die Arbeit mit demokratiefeindlichen und faschismusaffinen Texten der kanonisierten Autoren Ernst Jünger oder Gottfried Benn. Gleichzeitig bemüht man sich um die Wiederentdeckung weitgehend vergessener Schriftsteller wie Ernst von Salomon (1902–1972). Salomon zählt zur sogenannten Konservativen Revolution, also den antidemokratischen Stimmen der 1920er Jahre, bekleidete im Nationalsozialismus aber keine herausgehobene Funktion. Sein Mammutwerk „Der Fragebogen“ von 1951 war einer der größten Verkaufserfolge der Nachkriegszeit und erscheint bis heute – Stichwort „Verzahnung“ – im renommierten Rowohlt Verlag.

Die neurechte Begeisterung für Buch und Autor – Benedikt Kaiser erklärte Salomon im Jung­europa-Podcast kürzlich zum besten Schriftsteller der Konservativen Revolution – hat mehrere Gründe. Dass Salomon die amerikanischen Internierungslager mit den deutschen Konzentrationslagern überblendet, spielt der Neuen Rechten gleich doppelt in die Karten, weil damit sowohl Entnazifizierung und Re-Education nach 1945 kritisiert als auch der Nationalsozialismus zumindest partiell rehabilitiert werden können. Entscheidend für Letzteres ist die Schlusspassage des „Fragebogens“, in der Salomon seinen Respekt für Hanns Ludin zum Ausdruck bringt. Ludin fungierte 1941–45 als Gesandter des Deutschen Reichs in der Slowakei, sprach sich 1942 für eine „100prozentige Lösung der Judenfrage“ aus, war für die Deportation 60.000 slowakischer Jüdinnen und Juden verantwortlich und bekannte sich noch 1946 zum Nationalsozialismus und zu Hitler; 1947 wurde er als Kriegsverbrecher hingerichtet.

Immer wieder kommen Kubitschek und Kositza im Zusammenhang mit Salomon auf Ludin zu sprechen – und zwar durchweg hochachtungsvoll. So bezeichnet Kositza die von Ludins Enkeln betriebene Aufarbeitung der Familiengeschichte als „hinterlistigen Dolchstoß“ und in „besonderer Weise erschreckend“, während sie das Schicksal der jüdischen Menschen nur insofern beschäftigt, als es sich für eine zynische Pointe nutzen lässt: „Hanns Ludin, der die Deportationsbefehle von 60.000 Juden unterschrieb, muß ein beeindruckender Mensch gewesen sein.“ Eine solche Schamlosigkeit findet sich selbst bei Salomon nicht.

Attraktiv für die Neue Rechte ist Salomon aber auch aufgrund seiner eigenen Verstrickung in den Rechtsterrorismus, denn er war 1922 aktiv an der Ermordung des jüdischen Außenministers Walther Rathenau durch die Organisation Consul beteiligt. So beschäftigt sich ein Sezessions-Artikel zum 40. Todestag Salomons 2012 kaum mit dessen Werk, sondern huldigt stattdessen den dreimal namentlich erwähnten Salomon-Attentätern, zeigt einen von Neonazis neu errichteten Gedenkstein für diese und betreibt ein augenzwinkerndes Versteckspiel dadurch, dass als Verfasser des aktuellen Artikels Hans Wilhelm Stein-Saaleck angegeben wird, der bereits 1944 verstarb (und die Rathenau-Attentäter auf seiner Burg versteckt hatte). Mustergültig, aber keineswegs singulär führt der Umgang mit Salomon vor, wie die Neue Rechte ein vermeintlich literaturbezogenes Sprechen dazu benutzt, Positionen zu lancieren, die in ihrer Radikalität über das in politischen Essays Gesagte hinausgehen – bis hin zur Feier politischer Attentate.

Kurz gesagt: In neurechter Literaturpolitik wird gekämpft und gekuschelt. Diese paradoxe Doppelstrategie muss als solche erkannt und ernst genommen werden, da sie metapolitischen Erfolg verspricht. Deshalb ist es fahrlässig, wenn der FAZ-Redakteur Patrick Bahners 2021 auf Twitter eine Rezension von Ellen Kositza lobend erwähnt und verlinkt, als sei die Sezession eine gewöhnliche literaturkritische Institution. Dass die Neue Rechte viel zu oft bereits als solche wahrgenommen wird, zeigen Fälle aus dem Literatur­unterricht an Schulen und Universitäten, in denen Lerngruppen neurechtes Material, das u.a. auf Youtube frei zugänglich ist, zur Verfügung gestellt wurde, ohne den Publikationskontext mitzureflektieren.

„Einen Roman nach dem andern für uns vereinnahmen“

Ziel von Neurechten-Vordenker Götz Kubitschek

Bedenklich ist das nicht zuletzt deshalb, weil sich die Neue Rechte gegenwärtig besonders darauf konzentriert, Einfluss im Bildungsbetrieb zu gewinnen. Zu diesem Zwecke wurde im Herbst 2023 die „Aktion 451“ ins Leben gerufen, die eine Gründung studentischer Lesekreise anstrebt, um damit – so Kubitscheks Zielvorgabe – „einen Roman nach dem andern und ein zentrales Werk nach dem andern für uns [zu] vereinnahmen, aus rechter Sicht [zu] lesen und daraus das [zu] machen, was man eine Rückeroberung oder Reconquista an der Universität nennen sollte“.

Insbesondere Leh­re­r:in­nen an Schulen und Hochschulen sollten sich deshalb rasch über zwei Dinge klar werden: dass die Neue Rechte (erstens) auch das literarische Feld mit ausgeklügelten und variantenreichen Taktiken bespielt und dass dies (zweitens) im Rahmen einer metapolitischen Agenda stattfindet, also nicht um der Literatur willen geschieht. Harmlosigkeit und Selbstverharmlosung sind zwei völlig unterschiedliche Dinge – das gilt es im Hinblick auf die neurechte Literaturarbeit immer im Kopf zu behalten.

Torsten Hoffmann ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Stuttgart, wo er das DFG-Projekt „Neurechte Literaturpolitik“ leitet. Er ist Präsident der Internationalen Rilke-Gesellschaft und in diesem Jahr Mitglied der Jury des Deutschen Buchpreises.