Barrierefreier Nahverkehr in Berlin: Netz voller Lücken

Der Nahverkehr müsste seit zwei Jahren komplett barrierefrei sein. Vor allem bei den Bushaltestellen ist die BVG davon aber noch weit entfernt.

Rollstuhl-Piktogram in einem BVG-Bus

Rollstuhl-Piktogram in einem BVG-Bus Foto: Markus Heine

BERLIN taz | „Wumm.“ Der aggressive Knall, mit dem die ausklappbare Rampe auf dem Bordstein aufschlägt, ist ein vertrauter Soundtrack für viele Menschen, die sich im Rollstuhl durch die Stadt bewegen und dabei Busse der BVG nutzen. Wenn sich die Lücke zwischen Haltestelle und Fahrzeugkante nicht überwinden lässt, sind sie darauf angewiesen, dass die Busfahrerin oder der Busfahrer aussteigen und händisch für Überbrückung sorgen.

Dieses Prozedere kann nicht nur als demütigend erlebt werden, es sollte eigentlich auch längst der Vergangenheit angehören: Seit 2022 müssen gemäß dem deutschen Personenbeförderungsgesetz Fahrzeuge, Infrastruktur und Informationssysteme des öffentlichen Nahverkehrs komplett barrierefrei sein. Nicht nur, aber vor allem bei den Bushaltestellen ist Berlin meilenweit davon entfernt – und von übermäßigem Eifer kann in der Politik nicht die Rede sein: Gerade wurde im Rahmen der Haushaltskürzungen 170.000 Euro für die Umgestaltung von Bushaltestellen gestrichen.

Die Senatsverwaltung für Mobilität gibt auf Nachfrage der taz an, dass aktuell nur „ca. 10 Prozent der insgesamt rund 6.500 Berliner Bushaltestellen barrierefrei ausgebaut“ sind. Bezeichnend ist, dass die BVG, die diese Haltestellen ja nutzt, keine Angaben dazu machen kann. Und auch nicht dazu, wo es mit dem Umbau absehbar weitergeht. Die BVG verweist hier auf die Bezirksämter, die als Baulastträger dafür zuständig sind.

Aber auch bei denen ist die Datenlage kümmerlich: Pankow, Neukölln und Friedrichshain-Kreuzberg etwa führen gar keine Statistik. In Tempelhof-Schöneberg weiß man nicht genau, wie viele Bushaltestellen es im Bezirk gibt, hat aber eine Liste der bereits barrierefrei umgebauten (es sind 24 von rechnerisch über 500). Mitte dagegen kennt die Zahl der noch nicht barrierefreien Haltestellen (circa 400). Laut einer Sprecherin sollen 16 davon demnächst vom landesweiten Sonderprogramm „Barrierefreier Ausbau von 100 Haltestellen“ profitieren.

U-Bahn Von 175 U-Bahnhöfen sind 149 stufenlos zu erreichen: 141 haben Fahrstühle, 8 verfügen über Rampen. Noch in diesem Jahr sollen Fahrstühle auf den Bahnhöfen Platz der Luftbrücke (U6) und Altstadt Spandau (U7) in Betrieb gehen, für 2025 ist dies auf weiteren 7 Bahnhöfen geplant. Bis 2028 werde die U-Bahn komplett barrierefrei sein, so die BVG.

Straßenbahn/S-Bahn Bei den Tramhaltestellen rechnet die Verkehrsverwaltung mit einem vollständigen barrierefreien Ausbau bis „Anfang der 2030er Jahre“. Aktuell sind laut BVG 595 von 825 Haltestellen barrierefrei. Bei der S-Bahn sind 95 Prozent der Bahnhöfe in Berlin „stufenfrei erreichbar“.

Aufzüge Für das Problem defekter Aufzüge bietet die BVG in Zusammenarbeit mit der S-Bahn seit 2 Jahren das Projekt „Muva“ an. Dabei können Kleinbusse gerufen werden, die die Fahrgäste abholen und bis zur nächsten barrierefreien Station (oder an das Fahrtziel) befördern. Die Nutzung liegt „monatlich konstant im niedrigen dreistelligen Bereich“. (clp)

Klar ist dagegen, welche Kriterien eine barrierefreie Bushaltestelle erfüllen muss. Das steht im immer noch gültigen Nahverkehrsplan 2019–2023, der übrigens davon ausgeht, dass 35 Prozent der BerlinerInnen mobilitätseingeschränkt sind: Nicht nur die rund 350.000 Menschen mit einem Grad der Behinderung (GdB) über 50, sondern auch alle, die alters- oder krankheitsbedingt, durch Kinderwagen oder schweres Gepäck auf Barrierefreiheit angewiesen sind. Letztere wird definiert als „in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar“.

Der Nahverkehrsplan legt fest, was alles dazugehört – beim Busverkehr etwa Standards der „Bordhöhe“ und der Haltestellenkanten, um Abstände in Höhe und Weite zu minimieren. Außerdem muss sichergestellt werden, dass die Busse genügend Platz haben, um vollständig parallel und möglichst dicht an die Haltestelle heranfahren zu können. Als Vorzugslösung werden hier Haltestellen-„Kaps“ genannt, die direkt an die Fahrbahn heranragen, idealerweise ausgestattet mit dem sogenannten Kasseler Bord aus speziellen Betonelementen.

Misslingen einkalkuliert

Dabei war den AutorInnen des Nahverkehrsplans schon 2019 bewusst, dass „aufgrund der enormen Anzahl von Haltestellen eine vollständige Umsetzung der gesetzlichen Vorgabe bis zum 1. Januar 2022 nicht möglich“ sein würde. Als Ziel wurde definiert, eine Priorisierung durchzuführen und „ab 2023 circa 200 Bushaltestellen pro Jahr barrierefrei auszubauen“. Angesichts des Status quo wäre damit erst in rund 30 Jahren vollständige Barrierefreiheit erreicht. Und das, obwohl laut BVG „immer mehr mobilitätseingeschränkte Personen unsere Verkehrsmittel nutzen“.

Im Haus von Verkehrssenatorin Ute Bonde (CDU) sieht man das Problem, verweist auf das 100-Halte­stellen-Sonder­programm, dessen Umsetzung „zeitnah“ beginnen soll, spielt den Ball aber auch an die Bezirksämter zurück: Es „wurde seitens der Senatsverwaltung bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass sich die Bezirke zu einer verbesserten Bearbeitung abstimmen sollten“, heißt es in einer Antwort an die taz. Und die jüngste Budgetkürzung? Hier sei „davon auszugehen, dass die Absenkung des Titelansatzes keine Auswirkungen auf die tatsächliche Umsetzung“ habe, denn: „Mittelabforderungen durch die Bezirke waren für das Jahr 2024 nicht mehr in der Höhe des Titelansatzes zu erwarten.“

Berlins Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderungen, Christine Braunert-Rümenapf, macht klar, dass es sich beim Verfehlen der Barrierefreiheit-Ziele nicht nur um einen Verstoß gegen ein Bundesgesetz, sondern auch gegen das Benachteiligungsverbot des Grundgesetzes und die UN-Behindertenrechtskonvention handelt. Auf die Frage, ob der Senat genug tut, um schnellstmöglich Barrierefreiheit im ÖPNV herzustellen, antwortet sie mit einem klaren Nein.

Beschleunigung gefordert

Der Ausbau der Haltestellen müsse „unbedingt beschleunigt werden“, so Braunert-Rüme­napf zur taz. Wobei die rechtlichen Rahmenbedingungen im Grunde ja sehr gut seien: „Wenn es eine Regelungslücke gibt, dann ist es das Fehlen von Sanktionen bei Nichteinhaltung der Vorgaben“, sagt die Landesbeauftragte. Eine andere Möglichkeit, den notwendigen Prozess zu beschleunigen, „könnte auch darin bestehen, finanzielle Anreize an die Umsetzung der Barrierefreiheit zu koppeln“.

Solange die Infrastruktur noch nicht barrierefrei ist, sei die mangelnde Durchsetzung der Verkehrsregeln durch die Bezirke eine zusätzliche Hürde, kritisiert Braunert-Rümenapf: „Wenn an der Haltestelle illegal geparkt wird, müssen die Ordnungsämter schnell und konsequent durchgreifen.“ Da das oft nicht geschehe, müssten Busse immer wieder schräg auf der Fahrbahn halten – mit noch stärker eingeschränkter Zugänglichkeit.

Ein verbreitetes Problem sieht Braunert-Rümenapf im Übrigen auch bei den Bussen selbst: „Wenn die Fahrzeuge voll sind, reicht der Platz oft nicht für eine Person im Rollstuhl. Dann heißt es schnell: Warten Sie doch auf den nächsten Bus. Vielleicht wird es sogar der übernächste.“ Sie suche auch bei diesem Thema immer wieder das Gespräch mit der BVG.

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