Ärztetag fordert Beratung für trans* Jugendliche

Mit zwei Anträgen an die Bundesregierung zieht der Ärztetag viel Unmut auf sich. Ex­per­t*in­nen kritisieren eine politische Instrumentalisierung von Medizin und Wissenschaft, die längst weiter seien

„Protect Trans Kids“: Das fordern rund 300 Demonstrierende hier in Brandenburg an der Havel Foto: M. Golejewski/AdoraPress

Von Antonia Groß

Me­di­zi­ne­r*in­nen sagen, sie seien „schockiert“, Erziehungsberechtigte bezeichnen die Diskussion als „besorgniserregend“. Grund dafür sind in den vergangenen Wochen ausgetragene Kämpfe innerhalb der bundesweiten Ärz­t*in­nen­schaft zur gesundheitlichen Versorgung von trans* Kindern und Jugendlichen.

Auf der jährlichen Hauptversammlung der Bundesärztekammer, dem Ärztetag, wurden im Mai zwei Anträge beschlossen, die die Persönlichkeitsrechte und Behandlungsstandards für trans* Kinder und Jugendliche betreffen. Einer davon zielt deutlich auf das im April vom Bundestag beschlossene Selbstbestimmungsgesetz für die Rechte von trans* Personen. In dem an die Bundesregierung gerichteten Antrag heißt es, unter 18-Jährige sollten nicht „ohne vorherige fachärztliche kinder- und jugendpsychiatrische Diagnostik und Beratung“ ihren Personenstand ändern dürfen. Genau das sieht das Gesetz aber vor: Menschen ab 14 Jahren können mit Zustimmung der Eltern ihren Geschlechtseintrag und Vornamen mit einer einfachen Erklärung beim Standesamt ändern.

Beim zweiten Antrag geht es um eine neue Leitlinie zur Behandlung von Geschlechtsdysphorie, also dem Leiden, das entstehen kann, wenn das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht nicht mit der Identität übereinstimmt. Die Leitlinie wird gerade fertiggestellt und soll die veraltete aus den 1990er Jahren ablösen, die trans* Identitäten noch als „Störung“ bezeichnet.

Sieben Jahre lang haben 27 Fachgesellschaften daran gearbeitet und sich im März dieses Jahres auf einen Entwurf geeinigt. Zurzeit werden noch die Kommentare ausgewertet, die Fachgesellschaften dazu abgegeben haben. Dem Ergebnis griff der Ärztetag nun zuvor. Der Antrag wendet sich an den Bundestag und explizit gegen Kernelemente der neuen Richtlinie, etwa die Möglichkeit, Pubertätsblocker bei Jugendlichen mit Geschlechtsdysphorie einzusetzen.

Bindend für Bundesregierung und Parlament sind die Beschlüsse nicht – doch Beschlüsse des Ärztetags, so etwas wie das Parlament der Ärz­t*in­nen­schaft, haben durchaus Gewicht.

Gestellt wurden die Anträge von einer 7-köpfigen Gruppe aus Mecklenburg-Vorpommern. Sechs von ihnen kommen aus der Chirurgie oder der Allgemeinmedizin, nur einer gibt auf seiner Homepage an, Kinder und Jugendliche psychiatrisch zu behandeln. Beide Anträge wurden mehrheitlich angenommen, trotz vehementer Gegenrede, wie im Protokoll zu lesen ist.

Ex­per­t*in­nen und Betroffene sind von der Entscheidung des Ärztetags alarmiert. Sie warnen, dass die fachliche Diskussion politisch instrumentalisiert werde. Am bereits beschlossenen Selbstbestimmungsgesetz wird der Beschluss zwar nichts mehr ändern. Dennoch warnen Ex­per­t*in­nen vor der Wirkung, die solche Aktionen auf die ohnehin erbitterte und polarisierte Debatte über Rechte von trans* Personen haben kann. So überschrieben konservative und rechte Medien gleich nach dem Ärztetag ihre Berichte mit Titeln wie „Harte Ärzte-Kritik am Selbstbestimmungsgesetz“.

Das Jugendnetzwerk Lambda forderte den Bundesärztetag Anfang Juli dazu auf, beide Beschlüsse zurückzunehmen „und sich für die darin niedergeschriebene fälschliche Darstellung medizinischer und wissenschaftlicher Erkenntnis bezüglich (junger) trans* Menschen und die Argumentation auf Grundlage von Transfeindlichkeit und Adultismus zu entschuldigen“. Junge trans* Personen würden in den Beschlüssen pathologisiert, die Forderungen würden eine Verschlechterung des Status quo bedeuten. Der Begriff „Adultismus“ bezeichnet das ungleiche Machtverhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern sowie Jugendlichen.

Auch Organisationen wie die Magnus-Hirschfeld-Stiftung haben sich gegen die Beschlüsse des Ärztetags gewehrt. Die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung forderte den Deutschen Ärztetag auf, „die Expertise der medizinischen Fachgesellschaften anzuerkennen“ und die Entwicklung der Leitlinie abzuwarten, „anstatt voreilige und irreführende Beschlüsse zu fassen, die das Wohl von trans Jugendlichen gefährden“.

Elternverbände von LGBTQ-Kindern schickten mit der Deutschen Gesellschaft für Trans*- und In­ter*­ge­schlecht­lich­keit (dgti) einen Brief an den Präsidenten der Bundesärztekammer sowie an Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD): Die Beschlüsse würden „die Gesundheitsversorgung unserer Kinder dramatisch“ gefährden, schreiben sie. „Wir vertrauen auf das Wissen unserer Kinder, wer sie sind, wir vertrauen auf die Zusammenarbeit mit den behandelnden Thera­peu­t*in­nen, und wir vertrauen auf die enge Abstimmung mit den behandelnden Endo­kri­nolog*in­nen“, heißt es im Brief weiter. „Wir erleben in diesem Setting keinerlei Leichtfertigkeit.“

Im Juni unterzeichneten zudem mehrere Hundert behandelnde Ärz­t*in­nen und The­ra­peu­t*in­nen, Beschäftigte aus dem Gesundheitswesen, Verbände und Einzelpersonen einen offenen Brief. Darin bemerken sie mit „Bestürzung“ eine Diskrepanz zwischen sämtlichen Behandlungsleitlinien, die von medizinischen Fachgesellschaften erarbeitet wurden, und den Beschlüssen des Ärztetages. Diese seien unvereinbar mit den Empfehlungen des Deutschen Ethikrates und würden falsche Tatsachen verbreiten, etwa zur Wirkung von Pubertätsblockern.

Ei­ne*r der Un­ter­zeich­ne­r*in­nen ist Ulli Roth, Gy­nä­ko­lo­g*in aus Berlin. Roth arbeitet in einer Klinik, in der geschlechtsangleichende Operationen durchgeführt werden. Die Anträge seien laut Roth „nicht aus medizinischer, wissenschaftlicher oder ethischer Motivation eingebracht“ worden, sondern politisch motiviert, sagt Roth der taz. Aus Roths Sicht werde „ein gesellschaftlicher Diskurs unter dem Deckmantel von medizinischen Empfehlungen geführt“, und zwar zulasten des Wohls von trans* Jugendlichen.

Leitlinien legen den Behandlungsstandard bei einer bestimmten Diagnose fest und richten sich an behandelnde Ex­per­t*in­nen des jeweiligen Fachgebiets. Sie geben Ärz­t*in­nen vor, was sie tun müssen, um gemäß neuestem medizinischem Standard richtig zu behandeln. Die finale Leitlinie zur Geschlechtsdysphorie bei trans* Kindern und Jugendlichen soll im September veröffentlicht werden.

Dass dies geschieht, ist für Behandelnde wie Betroffene entscheidend: Wo in der veralteten Leitlinie aus den 1990er-Jahren noch von einer „Störung“ der Geschlechtsidentität die Rede war, gilt im neuen Entwurf allein die Geschlechtsdysphorie als „krankheitswertig“ – also das Leiden, das entstehen kann, wenn das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht nicht mit der Identität übereinstimmt. Das entspricht auch internationalen Klassifizierungen wie der der Weltgesundheitsorganisation.

Der Entwurf schlägt zudem vor, Pubertätsblocker grundsätzlich zu ermöglichen. Diese verschaffen Betroffenen einen Aufschub der Pubertät, also Zeit, um die richtige Behandlung auszuloten. Und die sei „hochspezialisiert“, sagt Roth, es gebe bundesweit nur wenige Ex­per­t*in­nen. „Aber die Medikamente sind seit Jahrzehnten auf dem Markt und werden auch für andere Indikationen eingesetzt. Das Spektrum an Nebenwirkungen ist durchaus bekannt“, sagt Roth.

Der Ärztetag hat nun jedoch beschlossen, dass Pubertätsblocker, geschlechtsangleichende Hormontherapien und Operationen bei unter 18-Jährigen „nur im Rahmen kontrollierter wissenschaftlicher Studien“ erlaubt sein sollten. Als Begründung wird eine „Abwesenheit medizinischer Evidenz“ über die psychische Verbesserung des Leidens durch Pubertätsblocker angeführt. Außerdem seien Kinder und Jugendliche „nicht in der Lage“, über die Einnahme zu entscheiden.

„Wir vertrauen auf das Wissen unserer Kinder, wer sie sind“

LGBTQ-Verbände und dgti

„Es gibt keine Abwesenheit medizinischer Evidenz“, sagt Andreas Heinz. Er ist Psychiater und Neurologe, Mitglied der Leopoldina und hat sich intensiv mit der Leitlinie beschäftigt. „Eine Pubertätsblockade allein macht nicht zufrieden, aber das ist auch gar nicht die Idee“, sagt Heinz. Er verweist auf eine aktuelle Auswertung bisheriger Studien, die zu dem Schluss kommt, dass zwar weiterhin robuste Forschung fehle. Allerdings gebe es durchaus Evidenz, dass sich die mentale Gesundheit während einer geschlechtsangleichenden Therapie verbessere. Die Deutsche Gesellschaft für Trans*- und In­ter*­ge­schlecht­lich­keit (dgti) betont, dass es besonders wichtig sei, die Suizi­da­li­tät zu verringern.

Auch aus Sicht von Andreas Heinz sind weitere Studien zwar wichtig, doch die aktuelle Debatte sei viel zu ungenau. Viele Geg­ne­r*in­nen der Leitlinie stellten pauschal die auch laut Bundesverfassungsgericht schützenswerten Begriffe wie den der geschlechtlichen Identität infrage.

„Wir sind in der Fachwelt so viel weiter“, sagt die Psychotherapeutin Sabine Maur, Mitautorin der Leitlinie. „Es ist, als würden wir bei der Behandlung von Depressionen erst einmal darüber nachdenken, was Traurigkeit bedeutet“, sagt Maur. Sie verweist darauf, dass der Entwurf mit 95 Prozent Zustimmung von den beteiligten Fachgesellschaften angenommen wurde. Auch die Kommentare hielten sich sehr in Grenzen. „Wir haben nach dem Wirbel um den Ärztetag gedacht, es wird viel heikler.“ Der Zugang zu Pubertätsblockern nur über Studien sei aber nicht akzeptabel. „Ein Zwang, an Studien teilzunehmen, ist medizinethisch nicht vertretbar“, sagt Maur.

Eine wirkliche Gefahr für die Leitlinie gehe von den Beschlüssen des Ärztetags nicht aus, sagt Sabine Maur. Dennoch ist nicht nur sie über die Vorgänge beunruhigt. „Was eigentlich ein rein fachlicher Austausch sein sollte, wird benutzt, um die Debatte über Geschlecht und trans* Rechte zu politisieren“, sagt Gy­na­ko­lo­g*in Ulli Roth. „Um die bestmögliche Therapie für trans* Jugendliche geht es dabei nicht.“