„Selbst mit Taylor Swifts Geld könnten wir nicht alle angemessen bezahlen“

Bei Spotify hieß Glenn McDonald der „Daten-Alchemist“. Zehn Jahre lang hat er für das Streaming-Unternehmen Algorithmen entwickelt, die aus Hörverhalten Musikempfehlungen generieren. Jetzt hat er ein Buch darüber geschrieben

Hat sie die Musik selbst ausgewählt oder der Algorithmus? Foto: Cavan Images/DEEPOL/plainpicture

Interview Mathis Raabe

taz: Herr McDonald, in Ihrem Buch „You Have Not Yet Heard Your Favourite Song“ sind sie sehr optimistisch und sagen: Musik und im Besonderen ihre Globalisierung durch das Streaming kann die Welt verbessern. Wie das?

Glenn McDonald: Musik kann die intellektuelle Angst vor Fremdem überbrücken, weil sie die Sinne anspricht. Man mag denken: Ich weiß nicht, wie Menschen auf den Seychellen drauf sind. Bestimmt könnte ich sie niemals verstehen. Aber dann hört man ihre Musik und stellt fest: Das ist zwar ein bisschen anders als die Musik, die ich kenne, aber es gibt einen Rhythmus und es wird gesungen. Vielleicht sind diese Menschen gar nicht so anders. Ich glaube, Musik kann ein Grundverständnis etablieren.

Sie haben viele der Algorithmen entwickelt, die uns bei Spotify Musik empfehlen. Neigt ein Rechenvorgang, dessen Ergebnisse gefallen sollen, nicht automatisch zu gefälliger Musik?

Ein Algorithmus selbst hat keinerlei Neigungen oder Absichten. Algorithmen sind nur Leistungsverstärker für die Programmierer und deren Absichten. Man könnte auch einen Algorithmus schreiben, der versucht, Hö­re­r*in­nen zu überraschen. Ob das von den Hö­re­r*in­nen angenommen würde, hätte aber viel damit zu tun, wie man die Ergebnisse präsentiert. Die meisten Streaminganbieter machen wenig, um ihre Empfehlungen zu kontextualisieren. Deshalb bleiben sie lieber bei den bekannten und bequemen Sachen. Da muss man nicht viel erklären.

Sollten die Streaminganbieter ihren Nut­ze­r*in­nen besser erklären, was unter der Benutzeroberfläche passiert?

Demut ist immer eine gute Eigenschaft, wenn man Menschen Computerprozesse vorsetzt. Diese Algorithmen sind sehr leistungsfähig, aber auch sehr fehlbar. Sie basieren ja auf Daten über menschliches Hörverhalten, und es kann alle möglichen Gründe dafür geben, dass ein Mensch sich einen Song angehört hat. Aber Demut ist in den Marketingabteilungen nicht beliebt. Wenn man den Marketingsprech in die Realität übersetzt, müsste über Spotifys Playlisten eigentlich so etwas stehen wie: Dies ist ein fehleranfälliger Versuch, Songs zu finden, die du noch nicht kennst und die dir gefallen. Beides könnte falsch sein: Du könntest den Song schon kennen und er könnte dir nicht gefallen.

2019 hat die Countrysängerin Martina McBride eine Countryplaylist erstellt und eine Spotify-Funktion schlug daraufhin weitere Songs vor – nur von Männern. Erst der 136. Vorschlag des Algorithmus war der Song einer Frau. Hat Spotify ein Interesse daran, in solchen Fällen einzugreifen?

Spotify geht einen Mittelweg, was knifflig ist. Es gibt Re­dak­teur*in­nen, die solche Ungleichgewichte adressieren sollen. Man kann die Algorithmen mit deren Input füttern. Dann arbeiten sie nicht mehr allein mit dem Faktor der Beliebtheit. Das funktioniert nun wahrscheinlich für Country ganz gut, aber es gibt nur wenige Re­dak­teu­r*in­nen gemessen an den vielen Musikgenres der Welt. Jemanden anzustellen, der bei Country diese Korrekturen vornimmt, ist wirtschaftlich. Im Fall von HipHop von den Seychellen ist es das nicht. Ein Großteil der Musik der Welt ist also immer noch sich selbst überlassen.

Spotify wird oft dafür verantwortlich gemacht, dass viele Mu­si­ke­r*in­nen wenig Geld verdienen und die Industrie ihren Fokus von aufgenommener Musik hin zum Konzertgeschäft verschieben musste. Wer ist Ihrer Meinung nach Schuld?

Die Daten des US-Industrieverbands RIAA zeigen, dass die Musikindustrie die Umsatzzahlen der CD-Ära bereits wieder eingeholt hat. Das ist gut. Die Zeit der Piraterie hat die Industrie nicht zerstört. Aber die Anzahl der Künstler*innen, auf die das Geld verteilt wird, ist jetzt sehr viel größer. In der CD-Ära hatte man keine Chance, Karriere zu machen, wenn man nicht bei einem großen Label unter Vertrag stand und im Radio gespielt wurde. Das ist immer noch schwer, aber es gibt jetzt einige Ausnahmen. Man kann hoffen. Ich habe auch Musik auf Spotify. Ich habe damit bisher 4 Dollar verdient. Wahrscheinlich werde ich nie davon leben können. Aber es gibt keinen mechanischen Grund, warum es nicht möglich ist. Meine Songs sind am selben Ort wie die von Ed Sheeran und Taylor Swift.

Der Grund für die geringen Tantiemen bei Spotify ist Ihrer Meinung nach also, dass dort so viele Mu­si­ke­r*in­nen mitspielen dürfen?

Foto: privat

Glenn McDonald

ist Softwareentwickler und Musiknerd. Bis zu seiner Entlassung entwickelte er Algorithmen für Spotify, die das Hörverhalten analysieren.

Das Niveau der CD-Ära zu erreichen, ist nicht ausreichend. Denn eine Industrie, die mehr Künst­le­r*in­nen unterhält, muss eigentlich auch um den selben Faktor größer sein. Und das ist sie noch lange nicht. Über die Verteilungsprinzipien von Spotify zu diskutieren, ist aber der falsche Ansatz. Wir müssen etwas grundsätzlich anders machen. Taylor Swift und Ed Sheeran sind reich, aber nicht reich genug. Selbst wenn wir all ihr Geld umverteilen, könnten wir nicht alle Künst­le­r*in­nen bei Spotify angemessen bezahlen.

Am Ende Ihres Buchs machen Sie Vorschläge für eine bessere Musikindustrie, in der zum Beispiel transparenter ist, wie die Algorithmen unser Hören beeinflussen. Strategisch gefragt: An wen sollten wir denn solche Ideen herantragen, um etwas zu verändern?

Regulierung kann sehr viel bewirken. In den USA ist kürzlich etwas Interessantes passiert. Seit Anfang des Jahres will Spotify erst ab 1.000 Aufrufen für einen Song Geld ausbezahlen. Für die Interpreten ist das möglich: Deren Tantiemen sind durch private Verträge geregelt. Auf der Seite der Songwriter ist es aber nicht möglich, denn deren Tantiemen sind in den USA gesetzlich geregelt. Das finde ich sehr aufschlussreich. Wenn auch die Tantiemen der Interpreten gesetzlich geregelt wären, wäre nichts passiert. Die Streaming-Industrie ist groß und die Major-Labels sind ein sehr symbiotischer Machtapparat. Es ist unwahrscheinlich, dass die große soziale Revolution innerhalb dieser Strukturen passieren wird. Seitdem ich nicht mehr für Spotify arbeite, habe ich jedoch viel mit kleinen Start-ups gesprochen, die sich einzelne Teile der Musikindustrie ansehen und sagen: Das ist kaputt. Wie können wir es reparieren und es ethischer und prinzipienfester machen? Die meisten von ihnen werden scheitern. Die meisten Start-ups scheitern. Selbst die, die scheitern, können vielleicht kleine Brüche im System hinterlassen. Fortschritt passiert, wenn man den Kurs großer Schiffe leicht korrigiert, und den kleiner Schiffe stark.

„You Have Not Yet Heard Your Favourite Song“ von Glenn ­McDonald, liegt nur auf Englisch vor, Canbury Press, 290 Seiten, 20,95 Euro