Was passiert denn da?

Zweimal setzt die Zeit aus in diesen drangvollen neun Tagen, einen Herzschlag lang, einmal an einem Sonntag, einmal an einem Montag. Dazwischen liegen eine Woche und ein Tag, die das Land gedreht haben. Am Sonntag vor einer Woche begannen die letzten sieben Tage von Rot-Grün. Heute, am Montag, beginnt die erste Woche der Kanzlerschaft Angela Merkels. Wie kommt es, dass die Welt eine andere ist, so schnell, so plötzlich?

Was bleibt vom rot-grünen Generationenprojekt, von der kulturellen Auflockerung dieses Landes nach 16 Jahren geistig-moralischem Helmut Kohl, wird erst nach dem 18. September allmählich klar werden. Bereits im Laufe der vergangenen Woche aber wurde immer unübersehbarer, was der Kanzler und sein SPD-Chef vielleicht nicht sofort in voller Tragweite erfassten: Der Schritt, Neuwahlen einzuleiten, war weit folgenreicher, als den Akteuren selbst bewusst war. Sie glaubten, einen Wahltermin um zwölf Monate vorzuziehen, tatsächlich haben sie die Koalition beendet, mit sofortiger Wirkung. „Wo die Macht verfällt, da verfallen alle Bindekräfte“, konstatierte kühl Franz Walter in der taz. Was auch der Göttinger Politikwissenschaftler nicht vorhersah, war die Wirkung der Worte von Franz Müntefering und Gerhard Schröder auf die vielen Dutzend kleinen und mittleren Chargen der Koalitionsparteien SPD und Grüne. Sie handeln jetzt auf eigene Faust. Das schafft die Verwirrung. Doch ihr Motiv ist klar: Unwiderruflich gebrochen ist, was noch tags zuvor die Regierung zusammenhielt – die politische Achse der Koalition, die Personifizierung von Rot-Grün, die persönliche Beziehung von Gerhard Schröder zu Joschka Fischer.

Zu den Besonderheiten dieser zwei mal sieben Tage gehört die Geschwindigkeit, mit der sich die Zerfallsprozesse der Macht ständig selbst überholen. Ausdruck dieses raren Phänomens ist die Kuriosität, dass die Ereignisse schneller sind als ihre politische Einordnung durch die handelnden Personen, dass also gewissermaßen die Politik des Zerfalls schneller ist, als die Politiker sind, deren Macht da zerfällt. Mit diesem verwirrenden Effekt hat es zu tun, dass das Zentralereignis der letzten Woche sich an keinem Tag zur Schlagzeile verdichtete: Schröder beerdigt Fischer. Nichts anderes bedeutete die Entscheidung des Kanzlers und seines Genossen im SPD-Vorsitz, ohne Vorwarnung Neuwahlen anzusetzen und eine Koalitionsaussage für Rot-Grün abzulehnen. Schröder beerdigt Fischer – und wo bleibt die Freundschaft? Ja, wo bleibt sie.

Was ist geschehen? Die Regierung ist nicht an der Wirtschaftspolitik gescheitert, sondern an den Wirtschaftsdaten. Die Konzepte der schwarz-gelben Herausforderer, insofern es sie überhaupt schon gibt, unterscheiden sich von den rot-grünen bekanntlich nicht grundsätzlich. Zum Verhängnis wurde der Regierung, dass ihr politischer Atem nicht ausreichte, sie bis an das Ziel zu tragen, an dem sie sich – zu Recht oder Unrecht – einen Wirtschaftsaufschwung versprochen hatte.

Nein, Rot-Grün hat genau auf dem Feld verloren, auf dem es die Bundestagswahlen von 1998 und 2002 gewonnen hat: Es hat bei den Bürgern die Deutungshoheit darüber verloren, was gut sei für die Republik. Der kalte, klare Schnitt, Neuwahlen einzuleiten, war insofern von innerer Konsequenz und kein reines Bubenstück in der politischen Dreier-WG von Gerd, Franz und Joschka. Gleichzeitig hat der Schnitt offen gelegt, was vorher als Ahnung schon spürbar war: Rot-Grün in seiner derzeitigen Konstitution hat sich überlebt. Diese Regierung hat weniger materiell abgewirtschaftet als ideell.

Zum ersten Mal deutlich wurde der Umstand bereits bei der Aufstellung der Wahlprogramme für 2002. Selbst führende Politiker von Rot wie Grün taten sich schwer – nach symbolträchtigen und erfolgreichen Vorhaben in der ersten Legislaturperiode – Wahlversprechen abzugeben, die etwas versprochen hätten. Heraus kam ein eher zufällig zusammengekehrtes Häuflein von Einzelmaßnahmen, denen die Homoehe als Leitidee vorangestellt wurde, um der eigenen Klientel überhaupt was fürs Herz zu bieten. Entsprechend intellektuell ausgemergelt verliefen nach dem knappen Sieg die Koalitionsverhandlungen.

Letztes Beispiel dieses gedanklichen Auszehrungsprozesses ist die nicht gerade ruhmvolle Karriere der Agenda 2010, die in der Folge zu Recht auf den deutlich weniger klangvollen Namen Hartz IV zusammengeschnurrt ist. Auch hier offenbart sich in der Rückschau eine innere Leere des Anspruchs, der sich damit begnügte, die erhofften Einspareffekte zum Ziel und damit Erfolgsmaßstab des ganzen Anliegens zu erklären. Als die Einnahmen ausblieben, platzte die Koalition – in fast parabelhafter Koinzidenz: Der Spiegel-Titel zu angeblichen Milliardenlöchern durch Hartz IV war keine zwölf Stunden auf dem Markt, da trat Franz Müntefering ans Mikrofon und verkündete die Entscheidung für Neuwahlen.

Seitdem nehmen die Akteure in der Regierung und deren Parteien nichts mit solcher Fassungslosigkeit zur Kenntnis wie die Tatsache, dass die Mehrheit der Bürger den Wahlausgang für unausweichlich hält. Wer als Wähler Rot-Grün schon jetzt für ideenlos hält, kann sich nicht vorstellen, dass das durch vier Monate Wahlkampf besser werden soll.

Kurz gesagt, die Umfragen sind für Rot-Grün nicht so schlecht, weil die Leute Schwarz-Gelb so gut fänden. Gerds Verlust des Vertrauens in Joschka ist nur auf symbolhaft verdichtete Weise die Spiegelung des Vertrauensverlusts von Rot in Grün und von Regierten in Regierung.

Den Fakt des inneren Kollapses zu benennen erlaubt immer noch, ihn zu bedauern. Im rot-grünen Milieu freilich möchten viele die neue Realität noch nicht ganz an sich heranlassen. So verständlich der Wunsch ist, so wenig hilft er, zu verstehen, was sich diese Woche in Deutschland abspielen wird.

Ob die Kanzlerschaft Angela Merkels vier, sieben oder sechzehn Jahre dauert, ist für die Analyse der Gegenwart weniger wichtig als die Frage, wann sie beginnt. Die Antwort lautet: heute. So wie die Ausrufung der Neuwahlen identisch war mit dem De-facto-Ende von Rot-Grün, so macht die Kandidatenkür von Union und FDP Merkel zur Co-Kanzlerin. Bis 18. September, bis die Bürger von neuem entscheiden dürfen, führt an der CDU-Vorsitzenden kein Weg vorbei. Eine Doppelspitze steht für vier Monate Deutschland vor, Schröder und Merkel sind Kanzler und Gegenkanzlerin einer politisch gevierteilten Nation: geteilt in Ost und West sowie in Rot-Grün und Schwarz-Gelb. Gemeinsam repräsentieren der rote Westmann und die schwarze Ostfrau die Republik also durchaus adäquat. Natürlich wird die CDU-Chefin in den kurzen Wochen bis zur Wahl keine Ideen zu Gesetzen und keine Menschen zu Ministern machen können. Doch da dasselbe für Rot-Grün gilt, stehen der Nicht-mehr-lange-Kanzler und die Bald-dann-richtig-Kanzlerin einander in nichts nach. Mit Merkels Aufstieg zur Macht aber – die freudeglühenden Gesichter auf so manchen Berliner Sektempfängen verraten es – fühlen sich bereits nicht wenige ihrer schwarz-gelben Anhänger im Kanzleramt angekommen. Deshalb lohnt es sich, schon jetzt zu fragen, wie die neue Zeit denn jenseits einzelner politischer Vorhaben aussehen kann: Was wird anders in Deutschland?

Will man diese gewissermaßen kulturelle Dimension des Machtwechsels erfassen, vernebeln rot-grüne Propagandafloskeln nur den Blick. Weder wird das Merkel-Deutschland ein Aufguss des Bonner Kohl-Suds sein noch die Gestalt einer zivilisatorischen Unterwelt annehmen, wie sie der Kampfbegriff von der „schwarzen Republik“ zu beschwören sucht.

Schwarz-Gelb ist zunächst und in erster Linie ein Generationenprojekt.

Viele Anhänger von Rot-Grün werden bereits diesen Anspruch als anmaßend empfinden. Doch verraten sie damit nur, dass sie als Nutznießer ihres eigenen Generationenprojekts dem Irrglauben anhingen, Rot-Grün sei das Ende der Geschichte. Schwarz-Gelb wird dieses Land in seiner ganzen Breite verändern, weil an Merkel und Westerwelle eine Generation von Frühvierzigern bis Endfünfzigern aus bürgerlichen Milieus hängt, für die der Machtwechsel die letzte biografische Chance ist, in der Berliner Republik Spuren zu hinterlassen. Am deutlichsten hat das bisher FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher benannt, der damit zugleich seinen Anspruch begründete, der Herold dieser neuen Zeit zu sein.

Drei deutsche Stunden null hat einst Richard von Weizsäcker ausgerufen, 1945, 1968, 1989, und Schirrmacher fügt 2005 hinzu. „Am Nullpunkt – unsere Chancen bei der Wahl“, lautet sein Manifest. Schon der Duktus ist Programm, die halbe Ironie, das Faible fürs Lakonische, das Understatement („Nullpunkt“), wo ein Herausgebervorgänger à la Joachim Fest vielleicht ins Pathetische gegangen wäre. Schwarz-gelb zu sein, ist zunächst mal eine Stilfrage.

Was heißt das für eine Kritik der neuen Verhältnisse?

Zunächst einmal, dass die Abgrenzung zwischen „uns“ und „denen“ weit schwerer fallen wird, als es uns die Propagandisten des Lagerwahlkampfs glauben machen wollen. Worin unterscheidet sich die „Generation Guido“, die der Spiegel bereits 2001 auf dem Weg an die Schaltstellen von Medien, Wirtschaft, Politik sah, vom links-saturierten Joschka-Stil, wie ihn das rot-grüne Milieu pflegte? Von Harald Schmidt bis taz, es gibt kaum ein Rot-Grün-Gericht, das der neue Konservative nicht gerne isst – sofern es mit Stil serviert wird. Umgekehrt heißt das: Dem linken Harald-Schmidt-Fan wird selbst Angela Merkel nicht nach dem Spaß trachten. Er stellt höchstens erstaunt fest, beim Lachen von Schwarzen und Gelben umgeben zu sein. Letztlich findet sich die gevierteilte Nation dann doch erstaunlich oft vereint wieder – samstags bei Ikea an der Kasse zum Beispiel. Auch die urgrüne Besorgnis, versehentlich doch einen Teppich aus Kinderarbeit zu erwerben, wird von erstaunlich vielen CDU-Wählern geteilt. Die Verhältnisse in der Ikea-Republik Deutschland dürften also unordentlich bleiben.

Dabei gilt für Schwarz-Gelb, was Rot-Grün sich auch zugute hielt: Die gesellschaftliche Ausstrahlung des eigenen „Projekts“ ist ungleich größer als die politische. Die Entschlossenheit der Generation Guido, endlich alle realen und zusammenfantasierten 68er aufs Altenteil zu jagen, dürfte also auch manchem Jungvierziger mit linker Gesinnung gelegen kommen. Das fängt bei den Parteien an: Nach Joschka Fischer wird man im Anschluss an die Schwarz-Gelb-Rasur vom 18. September vergeblich suchen auf den grünen Hinterbänken; der 57-Jährige hat stets angekündigt, nach dem Außenamt sei Schluss. Das freut so manche grüne Nachwuchskraft.

Natürlich ist nicht alle Stilkunde gleich politisch – und Politik viel mehr als Lifestyle. Doch in Zeiten von Sparzwängen, da für Realpolitik gleich welcher Couleur die Spielräume immer kleiner werden, ist Regierungshandeln oft erst mal Identitätspolitik. Wenn die Politik verändert, wie wir uns sehen, ändern wir unser Handeln oft von allein. Jedenfalls leisten wir weniger Widerstand. Und wie tief greifend Schwarz-Gelb unser Selbstbild verändert hat, zeigt sich am Thema Reformstau. Das Grundgesetz jeder schwarz-gelben Bundesregierung, dass nämlich vor allem mangelnde Flexibilität der Arbeitnehmer wie Arbeitslosen den Aufschwung verhindert, ist in den meisten Köpfen längst verankert. Dabei liegt dem Gedankengang ein Tiefenmuster zugrunde, das man in den nächsten Jahren noch auf vielen Politikfeldern wird beobachten können: Die Merkels und Westerwelles beteuern zwar fortwährend, mit ihnen gehe das Zeitalter der Ideologien zu Ende. Doch genau darin besteht ihre Ideologie – in der Überzeugung: Was wir denken, ist richtig, was ihr denkt, ideologisch.

In der Folge ist zum Beispiel mit einiger Sicherheit davon auszugehen, dass die angekündigten Arbeitsmarktreformen einer neuen Regierung darauf abzielen, Hartz IV–VIII mit ebenjenem ideologischen Überbau zu versehen, der ihm bisher noch weitgehend fehlt. Das immerhin messbare Kriterium der Einsparungen durch Reformen könnte etwa ersetzt werden durch den viel vageren Verweis auf den Nutzen der Flexibilisierung an sich. Der Wert eines politischen Instruments wird also nicht nach seinem Nutzen bemessen, sondern das Instrument selbst ist schon der Wert. Flexibilisierung um der Flexibilisierung willen.

Die Ideologiekritik, jene alte, wendige Kreissäge in den Händen der Linken, kann also auch in der schönen neuen Republik der Antiideologen noch gute Dienste leisten. Trotzdem tut sich das rot-grüne Milieu keinen Gefallen, die schwarz-gelbe Zukunft schwarz zu malen. Zum einen sind die Schnittmengen, gerade in der Alltagskultur, viel größer, als eingefleischte Linke vermuten könnten. Zum anderen wird kein Milieu durch den Machtwechsel so durcheinander gewirbelt und aufgemischt werden wie das schwarz-gelbe. Politisch bedeutet das, dass die ranzigen Ränder, die muffigen Reste, die es in der Programmatik und Praxis von Union und FDP noch zuhauf gibt, auf einmal in ganz anderem Maße dem grellen Licht der Öffentlichkeit ausgesetzt sein werden: Die latente Homofeindlichkeit der Union, um ein beliebiges Beispiel zu nehmen, ist mit einem Vizekanzler Westerwelle nicht zu vereinbaren – und man muss kein Prophet sein, um zu sagen, dass homophobe Pöbeleien bald auch bei der CDU mehr als Stirnrunzeln zur Folge haben werden.

Hinzu kommt: Neben der Ideologiekritik dürfte sich auch die Dialektik als erstaunlich lebendig erweisen. So wie nur Rot-Grün auf dem Balkan den ersten Krieg der Bundesrepublik führen konnte, wird nur die Union, zum Beispiel, ein Nationalbewusstsein jenseits des Blutrechts in Deutschland heimisch machen können. Ob sie dieser Verantwortung gerecht wird, darauf muss man scharf gucken – oder auf die Straße gehen, wenn sie den kulturellen Backlash versucht.

Vor allem aber bringt eine neue Truppe, nach fast acht Jahren für die andere Seite, Überraschungen, die nicht alle vorher berechenbar sind – und die nicht alle schlecht sein werden. Der Generationensprung jenseits jeglicher Lagerzugehörigkeit ist schon ein Vorbote dessen. Insofern: Ein bisschen weniger Angst vor Schwarz-Gelb, bitte.

Einspruch? Ist ein solcher Blick auf den Regierungswechsel nicht milde, feige, opportunistisch? Mitnichten. Jedem steht es frei, gegen Schwarz-Gelb zu stimmen. Und braucht es nicht grundlegende, radikale Gegenentwürfe? Aber bitte! Nachdem allerdings schon Rot-Grün sie in den letzten Jahren weitgehend schuldig blieb, spricht einiges dafür, dass so besonders viele neue, gute, auch linke Ideen derzeit nicht im Umlauf sind. Vielleicht muss da tatsächlich erst die Generation der rot-grünen Veteranen aufs Altenteil gehen, ehe Platz ist für andere Entwürfe.

Aber ob es den Verlierern des 18. September passt oder nicht: Nach der Wahl die Augen zu verschließen ist Realitätsflucht. Denn eins ist gewiss, wenn Schwarz-Gelb drankommt:

Da passiert was.