Mit
Eliten
anlegen

In Großbritannien steht Keir Starmer vor einem fulminanten Wahlsieg. Die SPD sollte sich Labour trotzdem nicht zum Vorbild nehmen. Sondern Mitte und links zusammen denken

Illustration: Katja Gendikova

Von Stefan Reinecke

Der Sozialdemokratie wird mal wieder das Totenglöcklein geläutet. Sozialdemokraten führen in Europa nur noch in ein paar Staaten Regierungen an. Rechtspopulisten drängen mit Schwung an die Macht, die Sozialdemokraten stehen ratlos daneben.

Ein Lichtschein in der Finsternis ist die nahende Wahl in Großbritannien, die Labour wohl triumphal gewinnen wird. Labour-Chef Keir Starmer hat die Partei auf einen Mitte-Kurs gezwungen. Ist das Vorzeichen eines Umschwungs? Nach dem Sieg der Liberalen in Polen nun ein Sieg der Linken über die Brexit-Konservativen in London? Kann die SPD davon etwas lernen?

Die Ausgangslage ist ziemlich anders als 1997 und 1998, als Tony Blair und Gerhard Schröder an die Macht kamen. Damals waren die britische und die deutsche Wirtschaft zusammengenommen drei Mal so groß wie die indische und chinesische. Heute ist das BIP von China und Indien drei Mal so groß.

Großbritannien ist nach eineinhalb Jahrzehnten Tory-Regierung in desolatem Zustand. Die Kinderarmut ist hoch, die Kluft zwischen Reich und Arm spektakulär. Ein deutsches Gericht hat 2023 verboten, einen Straftäter auszuliefern – die britischen Knäste seien aus humanitären Gründen unzumutbar. Kurzum: Labour gewinnt die Wahl nicht, die Tories verlieren sie.

Keir Starmer ist für die SPD kein Vorbild. Er hat – Spalten statt Versöhnen – den linken Flügel aus der Partei gemobbt, seinen Vorgänger Corbyn aus der Fraktion geworfen und Ken Loach aus der Partei. Der ist nicht nur einer der bedeutendsten britischen Filmregisseure – er hat auch jenen warmen, empathischen Blick auf gewöhnliche Leute, der der Apparate-Sozialdemokratie schmerzhaft fehlt. Loach quittierte den Rauswurf mit der süffisanten Bemerkung, Starmer wirke auf seinem Anti-links-Feldzug wie Mr. Bean, der sich in Stalin verwandelt.

Labour erscheint 2024 als blutarmer Technokraten-Club, der leidenschaftslos Sachzwänge exekutiert­. Ein geplantes Öko-Investitionsprogramm, das rund 35 Milliarden Euro pro Jahr kosten würden, wurde beerdigt. Starmer will unbedingt einen schuldenfreien Haushalt – klingt bekannt. All das ist wenig erfolgversprechend. Foreign Affairs,eher kein linkes Kampfblatt, warnt, dass Labour untergehen wird, wenn es auf Sparen und „Weiter so“ setzt.

Trotzdem: Muss die SPD, um in Zeiten des Rechtsrucks Wahlen zu gewinnen, in die Mitte rücken und alles Linke abstreifen? Auf diese Frage gibt es keine richtige Antwort. Denn sie suggeriert, dass „Mitte“ und „links“ ein Gegensatzpaar sind. Das stimmt 2024 so nicht. Um die Mitte zu erobern oder sie wenigstens nicht zu verlieren, müssen Sozialdemokraten linke Politik machen.

Dafür gibt es ein paar Gründe: Statusangst ist einer davon. Ein recht sicherer Indikator für die Stimmung der Deutschen ist das Sparbuch. Die Deutschen sparen weniger. 2020 legten noch 70 Prozent etwas zurück, 2023 war es nur noch jede Zweite – wegen der Inflation und steigender Mieten. Die Reallöhne sanken 2022 um 4 Prozent, so stark wie noch nie in der Bundesrepublik. Ein Fünftel der privaten Haushalte hatte 2023 seine Rücklagen aufgebraucht. Auch in der sozialen Mitte ist es Usus geworden, auszugeben, was reinkommt.

Das Phänomen der Verlustangst in der Mittelschicht ist komplex. Es geht dabei um Geld, vor allem aber um Status – wie man sich selbst wahrnimmt und wahrgenommen glaubt. Eine Studie in Finnland hat 2022 gezeigt, dass nicht jene, die einen realen Statusverlust hinter sich hatten, rechtsextrem wählen, sondern jene, die ihn befürchten. Das gilt auch für viele in der oberen Mittelschicht, von wo der mögliche Fall besonders dramatisch aussieht. Statusangst gehört zu den auf Konkurrenz gebauten Marktwirtschaften wie die Rolex zu Cristiano Ronaldo. In Multikrisenzeiten ist der Statusstress besonders heftig. Martin Wolf, Herausgeber der Financial Times, hält die „Ökonomie der Statusunsicherheit“, die fast alle in vibrierende Unsicherheit versetzt, für einem zentralen Grund für die Krise des westlichen Kapitalismus.

Das grassierende Gefühl, das man etwas verliert, ist eine Mixtur aus übersteigerter Verlustangst und angemessener Empfindsamkeit. Im welthistorischen Maßstab stehen wir an einer Bruchkante. Europa hat 500 Jahre den Globus geprägt und ausgebeutet. Jetzt neigt sich die Ära des Westens als ökonomisch, politisch und kulturell vorherrschende Macht dem Ende entgegen. Die Globalisierung schlägt zurück. Die stolze deutsche Autoindustrie, Symbol bundesrepublikanischer Überlegenheit, kann bald dort enden, wo die einst ruhmreiche Stahlindustrie schon lange ist.

Die Multikrisen – Ukrainekrieg, Klimawandel, Umbau der Wirtschaft – sind nicht nur Angstbeschleuniger, sie sind auch teuer. Die russische Bedrohung ist unkalkulierbar, der Schutz durch die USA unwägbar geworden. Europa wird mehr für Militär ausgegeben, so bitter das ist. Der deutsche Verteidigungsetat wird Richtung 100 Milliarden Euro jährlich und 4 Prozent vom BIP steigen.

Gleichzeitig ist nach dem törichten Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klimatransformationsfonds offen, wie der gigantische Umbau der Wirtschaft Richtung Klimaneutralität angeschoben werden kann. Dazu kommen Firmenpleiten und Nullwachstum, höhere Energiepreise und politisch motiviertes deriskingim Handel mit Autokratien. Autobahnen und Bahnstrecken weiter verrotten zu lassen ist auch keine gute Idee.

Foto: privat

Stefan Reinecke arbeitet als Autor im taz-Parlamentsbüro unter anderem mit dem SchwerpunktSPD und dem Blick auf die europäischen Schwester­parteien.

Auch wenn die Schuldenbremse irgendwann mehr oder weniger gelockert wird, stehen Verteilungskämpfe an, die rau und heftig werden, gerade für die bundesdeutsche Sowohl-als-auch-Konsensdemokratie. Alle spüren, dass irgendjemand wird zahlen müssen. Entweder die Ärmeren mit einem gekürzten Sozialetat, die Mittelschicht mit höheren Steuern oder – surprise – die oberen zehn Prozent.

Vor dem Prospekt dieser Verteilungskämpfe muss man auch die beiden deutschen Quasi-Gelbwesten-Aktionen 2023 lesen: den Widerstand ­gegen das Heizungsgesetz und gegen die Kürzung beim Agrardiesel. Beides waren zum Teil irrationale, angstgetriebene und von Rechten und Lobbygruppen gepushte Kampagnen. Aber sie hatten auch einen rationalen Kern: Wir (Bauern, Fuhr­unternehmer, Hausbesitzer – die Reihe wird noch länger werden) werden angesichts von Inflation und Reallohnverlusten diese Krisen nicht bezahlen. Es reicht nicht, den Anti-Eliten- und Angst-Diskurs der AfD irrwitzig zu finden (was er ist), man muss verstehen, warum er funktioniert.

Hat die SPD darauf Antworten? Schemenhaft. Immerhin scheint die Partei nach der Niederlage bei der Europawahl wach geworden zu sein und zu begreifen, dass die Hoffnung, dass Merz noch unbeliebter ist als Scholz, noch keine Strategie ist. Dass die SPD flügelübergreifend eine Lockerung der Schuldenbremse fordert und den Sozialstaat verteidigt, ist erfreulich – aber nicht genug.

Für die Kämpfe, die nun beschworen werden, ist die Partei nur bedingt gerüstet. Die SPD ist eine alternde, schrumpfende Partei, dominiert vom öffentlichen Dienst. Ein Malus ist, dass zu viel vom Kanzler abhängt und es kaum andere Stimmen gibt. Saskia Esken redet wie Scholz, Kevin Kühnert, der sich im Eiltempo vom Rebellen zum Partei­soldaten verwandelt hat, wie Lars Klingbeil. Die vielstimmige SPD, die vom knorrigen Gewerkschafter bis zum feinsinnigen bürgerlichen Intellektuellen reichte, ist Vergangenheit. Auf der Habenseite steht, dass die SPD, anders als die Milieupartei Grüne, als kommunal fest verankerte Organisation und Ex-Volkspartei noch immer Antennen in verschiedene Milieus hat und deren Stimmungen nicht erst aus Boulevard­zeitungen erfährt.

Wenn die soziale Mitte Aufrüstung, Erhalt des Sozialstaates und Klima-Umbau bezahlen soll, werden die Statusängste weiter wachsen

Allerdings fehlt der SPD etwas Entscheidendes, um die depressiven Zukunftserwartungen – Krieg in der Ukraine, Klimakatastrophe und Statuspanik – zu kontern: eine überwölbende, sinnstiftende Erzählung. Die Grünen haben als Klimarettungs­akteur ein strapazierfähiges, verbindliches Narrativ. Die Rechtspopulisten bieten das Völkische als regressives Sinnangebot. Das Narrativ der Sozialdemokraten – kollektive Solidarität und individueller Aufstieg – wirkt in Westeuropa aus vielen Gründen blass und ausgewaschen. Die Individualisierung hat die Idee und Praxis des Kollektiven geschwächt. Dass Blair und Schröder vor 25 Jahren den Neoliberalismus umarmten, hat den Verfall beschleunigt. Pragmatisch und nicht besonders korrupt zu regieren mögen erfreuliche Eigenschaften sein – aber sie wärmen nicht. Ideen und Bilder, wie es besser werden kann, könnten Statusstress und die angstgetriebene Retro-Sehnsucht nach Gestern kontern und dämpfen. Doch die grundpragmatische, intellektuell genügsame, ideenarme SPD produziert keine Visionen mehr.

Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt hat kürzlich schnittig einen „Populismus der Mitte“ angekündigt. Für die vielen, und jenseits der Berliner Politblasen. Das könnte funktionieren, wenn „Populismus der Mitte“ nicht wie bei Sigmar Gabriel eine funkelnde Idee ist, an die sich in zwei Wochen niemand mehr erinnern kann. Das könnte klappen, wenn die SPD damit nicht meint, die „hart arbeitende Mitte“ gegen Bürgergeldempfänger auszuspielen, wie es die Rechte derzeit tut. Das könnte klappen, wenn die SPD-Fraktion im Juli nicht zähneknirschend einen Sparhaushalt durchwinkt, der die nächste Gelbwesten-Revolte auslöst. Das könnte klappen, wenn Politik für die Mitte endlich effektive Mietbegrenzungen und (linke) Umverteilungspolitik meint – nicht um antikapitalistische Siege zu feiern, sondern um den demokratischen Kapitalismus vor seinen eigenen Dämonen zu retten.

Wenn die SPD die Statusängste der Mitte einhegen will, muss sie sich in den Verteilungskämpfen auch mit den Eliten anlegen, die in jeder Krise reicher geworden sind. Denn wenn die soziale Mitte Aufrüstung, Erhalt des Sozialstaates und Klima-Umbau bezahlen soll, werden die Statusängste weiter wachsen.

Wer da nach Vorbildern oder Inspirationen sucht, wird nicht in Großbritannien fündig. Sondern eher in Österreich. Dort verbindet der Sozia­list Andi Babler, ein linker, erdverbundener Provinzpolitiker, jenseits der ideologischen Trampelpfade Normalität mit Emanzipation. Und zeigt, dass Mitte und links zusammen funktionieren.