Sophie Fichtner
Vorschlaghammer
: Meine Freunde haben mich angesteckt, plötzlich will ich mir auch nachts den Mund zukleben

Foto: Niko Kappel

Mit Freunden in den Urlaub fahren ist auch deshalb so schön, weil man im Bett kurz vorm Schlafen die besten Gespräche hat. Aber meine Reisebegleitung klebt sich den Mund mit einem H-förmigen Tape zu. Er winkt noch von seiner Matratze „Gute Nacht“ und der Rest ist mhh hm mhhh.

Mein Kumpel ist dem Mouth-Tape-Trend verfallen. Deswegen sieht er beim Schlafen so aus, als wäre er gekidnappt worden. Durch den zugeklebten Mund atmet man im Schlaf nur durch die Nase. Morgens soll man sich fitter fühlen, nicht mehr mit staubtrockenem Rachen aufwachen und auch die Mundhygiene soll sich verbessern. Wissenschaftlich bewiesen ist das alles nicht. Aber tatsächlich ist es gesünder durch die Nase zu atmen, weil unsere Nasenhaare die Luft filtern und sie aufgewärmt wird.

Mouth Taping geisterte vor einigen Monaten durch Social Media, aber da schaffte der Trend es nicht in mein Schlafzimmer. Dass Schauspielerinnen und Fußballstars gerne zugeklebten Mund tragen, ließ mich kalt. Schließlich war weniges so befreiend wie das Ende der Zahnspangenära. Jahrelang hat sie mich beim Einschlafen gestört, meinen Mund versperrt.

Aber bei einem Tape-Anhänger ist es in meinem Freundeskreis nicht geblieben. Sie alle schwärmen: „Ich habe noch nie so tief geschlafen“, „ich fühle mich fit wie nie“, „ich fahre damit vorm Einschlafen komplett runter“.

Ich merke, meine Freunde haben eine einflussreichere Wirkung auf mich als jede Influencerin. Ich vertraue ihnen ja auch sonst mein Leben an: Ist der Typ ein Reinfall? Kann ich das so sagen? Steht mir diese Hose? Wenn sie sich also nachts den Mund zukleben, könnte mir das nicht auch guttun?

Von sozialer Ansteckung spricht die Forschung. Unsere Peergroup kann uns am besten beeinflussen. Es gibt zig Studien, die das bestätigen. Wir gehen zum Beispiel häufiger Blut spenden, wenn das in unserem Umfeld ein Ding ist. Und wir lassen uns stärker vom Gähnen unserer Freun­de anstecken als von der Sitznachbarin in der U-Bahn. Wir sind völlig freundbestimmt.

Der Ansteckungseffekt kann sogar politisch relevant werden. In Nachbarschaften mit Solar auf dem Dach wurden immer mehr Anlagen installiert. Solar-Hotspots entstanden, weil alle dazugehören wollten. So wichtig wird das hier nicht, aber ich will jetzt das Tape testen.

Ich vergewissere mich noch, dass ich nicht ersticke, sollte meine Nase nachts verstopfen. Aber unser Gehirn hat wohl einen Notfallmechanismus und wir wachen auf, wenn wir nicht genug Luft bekommen.

Weil ich keine Lust habe das Profitape in H-Form zu kaufen (ein Monat Mund zukleben für 19,99 Euro), schneide ich Pflastertape in zwei schmale Streifen und klebe sie als X über meine Lippen.

Schnell fühlt sich meine Zunge schwer an, als wäre sie zu groß für meinen Mund. Ich versuche es zu ignorieren, wie wenn es im Sommer zu heiß zum Einschlafen ist. Nicht bewegen und aushalten.

Ich vergewissere mich noch, dass ich nicht ersticke, sollte meine Nase nachts verstopfen

Im Schlaf muss ich mich von dem Klebeband befreit haben. Am Morgen klebt es über meinem Bett an der Wand. Auch die zweite Nacht halte ich nicht durch. Ich werde fast stündlich wach und gebe auf.

Wie weit die Macht des sozialen Ansteckens wohl geht? Vielleicht sollte ich das mal testen und meinen Freunden raten, mit einem Kieselstein im Schuh durch die Gegend zu laufen. Das trainiert nämlich die Resilienz.

Sophie Fichtner, 27, ist Redakteurin der wochentaz. Jeden Monat erhält sie einen Rat fürs bessere Leben und testet: Ist das Fortschritt oder Bullshit?