Korpsgeist in Waldorfklassen: Disziplin und cholerische Bauern

In den Waldorfklassen verschwindet das Individuum in der Gruppe. Klingt super, der Preis für die Einzelnen aber ist mitunter sehr hoch.

Jugendliche mit Masken bei einem Theaterstück.

Schü­le­r:in­nen einer Waldorfschule beim Proben eines Theaterstücks Foto: Ulrich von Born/Funke Foto Service/imago

Die Highlights im Waldorfjahr: Feste, Klassenfahrten, Monatsfeiern, Praktika und Klassenspiele. Man wächst als Waldorfkind selbstverständlich damit auf.

Mit vier Jahren beim Adventsgärtlein eine Kerze anzünden, tragen, abstellen – und die Erwachsenen singen. Mit sieben auf der großen Bühne vor 500 Menschen sprechen. Ab elf Jahren Wanderungen, Radtouren, Paddeltouren. Stärker und selbstbewusster werden.

Beim Forstpraktikum im kalten Herbstnebel Hunderte Setzlinge pflanzen. Natur erleben. Weitere Aufführungen. Beim Landwirtschaftspraktikum 3 Wochen lang für einen cholerischen Demeter-Bauern arbeiten. Und mehrfach mit der ganzen Klasse schwer bepackt bei sengender Sonne oder im Regen 50 Kilometer Sandweg radeln oder 1.000 Höhenmeter wandern.

Die Erwachsenen waren verzückt, stolz und sehr überzeugt, es würde uns Kindern und insbesondere uns Jugendlichen gut tun. Sie schwärmten von unseren Entwicklungssprüngen. Drei Zentimeter größer wären wir.

Auch wenn die Herausforderungen sich ändern, sind es meist dieselben, die hinterherhängen – erschöpft, oft mit Schmerzen – und dieselben, die genervt warten müssen. Wer sich seinen Text oder die Eurythmieform nicht merken kann, spürt die Angst und den Unwillen der Gruppe, sich wegen Einzelner vor der Schulgemeinschaft zu blamieren. Das individuelle Erleben ist unterschiedlich, aber ich kann mich nicht erinnern, dass es je keine Tränen bei diesen Projekten gegeben hätte.

Ich habe der Erwachsenenperspektive geglaubt. Ich war stolz darauf, ein gutes Waldorfkind zu sein. Selbstüberwindung, Disziplin und sich fügen, auch wenn diese Worte niemand benutzt hat. Eher „Mut“ und „über sich hinaus wachsen“. Wenn Mit­schü­le­r*in­nen klagten oder zusammenbrachen, hatte ich wenig Verständnis dafür. Man musste sich nur mal ordentlich zusammenreißen. So mit Willen und so.

Normal halt. Aber ist es das? Wie ging es uns als Individuen? Was ist dabei innerlich vielleicht auch zerbrochen? Welche Abhängigkeiten wurden zementiert? Wir waren nach solchen Gemeinschaftsprojekten als Klasse durchaus funktionaler. Aber zu welchem Preis? Gruppen regulieren sich auch auf Kosten der Individuen.

Viele Erfahrungen waren durchaus wertvoll und gleichzeitig sehe ich heute viele Situationen kritisch. Zumal es keine validen Möglichkeiten gab, sich zu entziehen oder abzubrechen. Alle mussten bei den Theateraufführungen eine Rolle übernehmen und alle mussten mit auf Tour.

Es gab kein Entrinnen und wenig Selbstbestimmung. Wir bekamen zwar keine Noten, aber es herrschte Konformitätsdruck und permanentes Beobachtetsein in der Schulgemeinschaft – schließlich bleibt man zwölf Jahre beisammen. Was von außen als gemeinschaftsstiftend gepriesen wird, kann sich von innen beengend anfühlen. Und ist es überhaupt Gemeinschaft, wenn sie so wenig auf Freiwilligkeit beruht, oder eher Korpsgeist?

Wenn ich heute vor Menschen spreche, misst meine Uhr einen Puls von 160 und mein Hemd ist verschwitzt, während ich gleichzeitig denke, es mache mir nichts aus.

Ich habe gelernt, meine Selbstwahrnehmung abzustellen, meine Grenzen ohne Widerstand zu übergehen, und Burn-outs sind mir sehr vertraut. Gruppenzugehörigkeit wiederum löst bei mir teils irrationale Ängste aus.

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