Kunst gegen die Einsamkeit

Marinella Senatores Kunstwerke entstehen kollektiv und sollen sich der Vereinzelung widersetzen. Im Kunsthaus Stade sind Grafiken, Skulpturen, Filme und Installationen der Italienerin zu sehen

Mehr als sieben Millionen Menschen haben schon an Senatores Paraden teilgenommen Foto: Chris Almeida/Kunsthaus Stade

Von Jonas Kähler

Als Erstes fällt der Blick auf bunte Lichtinstallationen. „We Rise by Lifting Others“ steht auf einer der „Luminarie“ im Kunsthaus Stade. Bis September zeigt das Kunsthaus unter dem Titel „Together We Stand“ gesammelte Werke der italienischen Künstlerin Marinella Senatore. Grafische, skulpturale, filmische und installative Arbeiten verweisen auf Orte, an denen sich Menschen versammeln, um für ein besseres Leben zu kämpfen, aber auch, um ihre Verbundenheit zu feiern. In der Tradition der griechischen Agora oder des römischen Forums schafft Senatores Kunst Öffentlichkeit und Kollektivität, sie bietet einen Ort für Austausch und Kreativität. Die Luminarie stehen für geteilte Freude und gemeinsame Erfahrungen. In Süditalien haben sie eine lange Tradition. Wenn bei Jahrmärkten oder religiösen Festen die Luminarie angehen, beginnt die Feier und je­de*r ist eingeladen.

Wenn Senatore über ihre Arbeit spricht, zählt sie nicht ihre Kunstwerke auf, sondern erzählt von den Menschen, die daran beteiligt waren. Ihre Arbeiten sind Gemeinschaftsprojekte, die politischen Protest mit künstlerischen Ausdrucksformen verbinden. Dabei geht es immer auch um die Selbstermächtigung der Beteiligten in kollaborativen Prozessen. Sie selbst hält sich im Hintergrund und versteht sich als Moderatorin.

„Es gibt einen Mangel an Zugehörigkeit, die Isolation ist herzzerreißend, die fehlende Verbindung ein Elend“, sagt sie. Ihre Kunst widersetzt sich der Vereinzelung: „Wenn man zusammenkommt, zusammensteht, kann man sich weniger alleine fühlen.“

Marinella Senatores Kunstwerke entstehen jenseits von Verwertungslogiken, durch Menschen, die sonst oft übersehen werden. „In unseren Projekten nutzen wir keine Begriffe wie Scheitern, Erfolg oder Misserfolg, produktiv oder unproduktiv“, sagt sie. Die Arbeiten feiern das Verbindende. Dabei sind sie immer politisch und vermitteln ein Gefühl kollektiver Selbstwirksamkeit, also die innere Überzeugung, schwierige oder herausfordernde Situationen gut meistern zu können.

So hängen von der Decke der zweiten Etage des Kunsthauses diverse Banner, an denen vor allem Geflüchtete und Opfer häuslicher Gewalt gemeinsam mit lokalen Nä­he­r*in­nen in Palermo gearbeitet haben. „Wir versuchen auch eine Ökonomie zu generieren“, sagt Senatore. Durch den Austausch von handwerklichem Wissen konnten viele der Beteiligten einen Weg finden, ihren Lebensunterhalt durch die Arbeit mit Textilien zu verdienen.

Neue Formen der Gemeinschaft

Die Banner tragen dabei den Geist historischer sozialer Bewegungen in sich, ähneln Protestbannern der Arbeiter*innenbewegungen, zu der Senatore auch persönlich eine enge Beziehung hat. Zugleich verweisen sie auf aktuelle politische Kämpfe oder zeigen ermutigende Slogans. „We Are Here, Because Others Were Here Before Us“ steht da zum Beispiel, oder „911 is a Joke“, eine Anspielung auf die amerikanische Notrufnummer und die grassierende Polizeigewalt in den USA. „Die Ideen für die Sprüche kommen immer von den Beteiligten“, sagt Senatore.

2012 initiierte die Künstlerin die „School of Narrative Dance“. Dabei kommen Hunderte bis Tausende von Menschen zusammen, um in Workshops und Proben eine öffentliche Straßenparade zu gestalten. Mehr als sieben Millionen Menschen in 23 Ländern haben bereits an den Paraden teilgenommen, die Tanz, Musik und Aktivismus verbinden.

Am Anfang dieses partizipativen Prozesses steht immer ein offener Aufruf in allen in der Stadt gesprochenen Sprachen. Senatore sucht Menschen jeden Alters und jeder Herkunft, mit unterschiedlichen politischen Positionen und ökonomischen Hintergründen. Vorkenntnisse sind nicht erforderlich, je­de*r kann mitmachen.

„Die Gruppen sind divers und Unterschiede sind nicht relevant“, sagt Senatore. Es gehe darum, gemeinsam etwas zu schaffen, fernab jeglicher Konkurrenz. „Es ist egal, ob du aus dem Gefängnis kommst oder reich bist. Wir schaffen einen sicheren Raum, in dem sich Menschen entfalten können. Das Zusammenkommen und Zusammenstehen entwickelt eine transformative Kraft“, sagt sie.

Trägt den Geist historischer sozialer Bewegungen in sich: Senatores „Protest Bike“ Foto: Courtesy the Artist und Mazzoleni, London – Torino

Die „School of Narrative Dance“ stellt den menschlichen Körper in den öffentlichen Raum. Er wird zum Mittelpunkt der Kunst und des gemeinschaftlichen Geschehens. Der Körper wird sichtbar in seiner Verbundenheit und Verflochtenheit mit anderen, aber auch in seiner Einzigartigkeit und Verletzlichkeit.

Die Paraden erinnern an traditionelle Umzüge, schaffen aber neue Erzählungen, frei von überholten Doktrinen. In München führte die Parade 2023 durch Straßen, durch die einst die Nazis marschierten. Die Vielfalt der Teilnehmenden gibt der Tradition eine neue Bedeutung, die Straße wird wieder angeeignet.

In Stade wurde für die Dauer der Ausstellung ein umfangreiches Rahmenprogramm entwickelt. Veranstaltungen wie „Together We Paint“, „Together We Dance“ oder „Together We Play“ laden im Sinne von Senatores Arbeit zur Begegnung im öffentlichen Raum ein. „Wir wollen Kontakt aufnehmen mit Menschen, die sonst nicht in die Museen gehen“, sagt Kuratorin Luisa Fink. Das Community-Programm sei nur die Spitze des Eisberges, es soll dazu beitragen, ins Gespräch zu kommen und neue Formen der Gemeinschaft zu erkunden.

Marinella Senatore: Together We Stand: bis 8. 9., Stade, Kunsthaus, www.museen-stade.de; After-Work-Führung „One Heartbeat – Wenn Menschen zusammenkommen“: Mi, 17. 7., 17.30 Uhr; Gespräch mit Marinella Senatore: Fr, 19. 7., 19.30 Uhr