Wappnen für den ukrainischen Winter: Wettlauf gegen den Ausfall

Die russische Armee soll rund die Hälfte der Energieinfrastruktur in der Ukraine zerstört haben. Der Wiederaufbau ist mühsam, Strom knapper denn je.

Eine Frau liegt auf einem Sofa im Halbdunkeln, der Strom ist ausgefallen

Blackout in Kyjiw nach einer Attacke der russischen Armee Foto: Thomas Peter/reuters

LUZK taz | Einen freien Termin bei einem Elektriker zu bekommen ist derzeit in der Ukraine nahezu unmöglich. Manche müssen wochenlang warten, denn die Nachfrage ist hoch. Der Grund: Die Menschen wollen ihre Wohnungen für den kommenden Winter aufrüsten, und zwar jetzt, bevor es wieder kalt wird. Die Kapazität der Geräte, die die Menschen im ersten Winter der russischen Invasion gekauft haben, reicht längst nicht mehr aus. Das ukrainische Energiesystem ist heute in einem viel schlechteren Zustand als damals.

Serhij Krylow ist einer der Elektriker, die in der westukrainischen Stadt Luzk solche Dienstleistungen anbieten. Die meisten Kun­d*in­nen bitten Krylow, solche Systeme auszuwählen und zu installieren, die ihre Häuser auch bei mehrstündigen Stromausfällen versorgen können. Eine der beliebtesten Optionen ist ein System, das aus einer Batterie, einem Ladegerät und einem Wechselrichter – also einem speziellen Stromwandler – besteht. Mit einem solchen System kann man im Winter bei einem 10- bis 12-stündigen Stromausfall alle Geräte, einschließlich der Heizung, sparsam betreiben.

Der Preis für ein solches System liegt bei etwa 500 Euro. In der Ukraine ist dies für viele Menschen eine beträchtliche Summe. Im Frühjahr zerstörten russische Raketen und Drohnen rund die Hälfte der ukrainischen Energiekapazitäten. Fast alle Wärme- und Wasserkraftwerke in der Ukraine sind nun außer Betrieb. Dies hat enorme Auswirkungen auf die Stromerzeugung. Das größte Atomkraftwerk Saporischschja steht seit 2022 unter russischer Besatzung und das Wasserkraftwerk Kachowka wurde im Sommer 2023 zerstört.

„Stellen Sie sich vor, Sie verbrauchen täglich zehn Kilowatt und haben jetzt nur noch fünf“, fasst Oleksandr Chartschenko, Direktor des Energieforschungszentrums, das Ausmaß der Zerstörung im Energiesektor der Ukraine zusammen. Das derzeitige Defizit ist auch auf die geplanten Reparaturen der Atomkraftwerke zurückzuführen, die neben den Solarkraftwerken die einzigen Stromerzeuger in der Ukraine sind.

Stromtarife um 65 Prozent teurer

Um Energie zu sparen und die verfügbaren Kapazitäten zwischen Industrie und Haushalten aufzuteilen, wurden Mitte Mai Zeitpläne für Stromausfälle eingeführt. 4 bis 6 Stunden jeden Tag gibt es keinen Strom für die Ukrai­ne­r*in­nen. Die Regierung hat Bür­ge­r*in­nen und Unternehmen aufgefordert, trotz der aktuellen Hitzewelle den Einsatz von Klimaanlagen, die viel Strom verbrauchen, einzuschränken. Dieser Aufruf zeigte nur geringe Wirkung. Darüber hinaus reagierte die Regierung mit einer Erhöhung der Stromtarife um fast 65 Prozent.

Die meisten sehen darin einen Test für den Winter, wenn die Stromausfälle noch länger und häufiger werden könnten. Optimisten rechnen mit 6 bis 8 Stunden, Pessimisten mit 10 bis 14 Stunden Stromausfall pro Tag. „Die ukrainischen Städte werden wahrscheinlich mit Wasser und Heizung versorgt. Die Regierung bemüht sich darum. Aber das ist eine Prognose, die auf dem derzeitigen Grad der Zerstörung basiert. Aber es gibt keinen Grund zu glauben, dass Russland aufhören wird, den Energiesektor zu bombardieren“, sagt Chartschenko.

Strom­importe könnten die Situation verbessern, aber sie können im besten Fall nur 10 Prozent des Winterverbrauchs decken. Die ukrainische Regierung wirbt nun weltweit um Material und Ausrüstung, um die von der russischen Armee zerstörten ­Energieanlagen wieder aufzubauen. Hilfe kam bereits aus Deutschland, Norwegen und Frankreich.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat die Regierung angewiesen, die Installation von Solaranlagen und Batterien in Schulen und Krankenhäusern zu vereinfachen. Seine Initiative umfasst Steuer- und Zoll­erleichterungen sowie Kreditprogramme für Bürger*innen. Die Regierung will damit ein System von Hunderten kleinerer Kraftwerke schaffen, die für die russische Armee schwerer anzugreifen sein sollen. Kyjiw hat zudem mit dem Kauf von 15 Mini-Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen begonnen.

Nur noch vier Monate bis zum Winter

„Wir brauchen kleine Kraftwerke und Energiespeichersysteme, um überschüssige Energie tagsüber zu speichern und abends zu verbrauchen. Der Staat muss mehr Holz und landwirtschaftliche Abfälle nutzen, also Biogas-Blockheizkraftwerke bauen“, sagt Wolodymyr Kudrytskyj, CEO des staatlichen Energieunternehmens Ukrenergo.

Gleichzeitig weisen Ex­per­t*in­nen darauf hin, dass es nur noch vier Monate bis zum Winter sind und es schwierig sein wird, alle Maßnahmen rechtzeitig umzusetzen. Deshalb fahnden die Ukrai­ne­r*in­nen bereits nach kreativen Lösungen. Manche suchen sich ein Haus auf dem Land mit Holz- oder Kohleofen, andere kaufen sich Solarpaneele oder Ladestationen. Wieder andere lassen sich von Leuten wie dem Elektriker Serhij Krylow beraten, um die beste Option für ihr Budget zu finden.

Angesichts drohender massiver Stromausfälle im Winter wird in den ukrainischen Medien über die Möglichkeit einer neuen Fluchtwelle nach Europa diskutiert. Ähnlich war die Situation im letzten Winter, als viele Be­woh­ne­r*in­nen der Großstädte vorübergehend zu Freun­d*in­nen in die EU zogen, um den Winter abzuwarten und dann in die Ukraine zurückzukehren.

Aus dem Ukrainischen Anas­tasia Magasowa

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