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Zivile Seenotrettung nicht kriminalisieren!

SOS Mediterranée ist seit Jahren mit Schiffen im Einsatz, um Leben zu retten. Laut Forschungen ist ihr Eingreifen kein Pull-Faktor für Mi­gran­t:in­nen

Allein 2023 sind mindestens 3.000 Geflüchtete im Mittelmeer „verschollen“ Foto: Jeremias González/ap/picture alliance

Interview: Dierk Jensen

Die Flucht übers Mittelmeer nach Europa ist oft tödlich, während zivile Seenotretter bei ihren Hilfsaktionen strukturell behindert werden – wie auch die 2015 gegründete Organisation SOS Mediterranée, die mit ihrer„Ocean Viking“ schon rund 40.000 (!) Menschen vor dem Ertrinken bewahrt hat, hauptsächlich finanziert durch private Spenden. Die taz sprach mit Julia Leithäuser von SOS Mediterranée.

taz: Frau Leithäuser, die Kriege in der Ukraine und in Gaza verdrängen die Tragödie, die sich auf den Fluchtrouten im Mittelmeer ereignen. SOS Mediterranée ist dort seit vielen Jahren mit Rettungsschiffen im Einsatz und hat unglaublich vielen Menschen das Leben retten können. Wie ist die Fluchtsituation aus ihrer Perspektive?

Julia Leithäuser: Wir haben gerade mit unserer „Ocean ­Viking“ einen Rettungseinsatz beendet und die Menschen sind im Hafen von Ancona angelandet. An Bord waren insgesamt 67 Menschen, die wir am 28. und 29. Mai vor dem Ertrinken gerettet haben. Leider spitzt sich die Situation auf den Fluchtrouten weiter zu. Wir erleben zum Sommer immer wieder ein starkes Ansteigen der Zahl von Flüchtenden, die sich aufs Mittelmeer wagen. Dabei war 2023 das bisher tödlichste Jahr: Mehr als 3.000 Menschen gelten als verschollen, sind de facto auf dem Mittelmeer gestorben. Die Dunkelziffer liegt aber sogar noch weit höher.

Ein Drama, das von der europäischen Politik geduldet wird.

Auf jeden Fall hat die im April von der Europäischen Union verabschiedete Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (Geas) unsere Arbeit nicht leichter gemacht. Die Behinderung wird immer deutlicher, während die EU den Versuch unternimmt, die Pro­ble­me außerhalb der eigenen Außengrenzen abzuwickeln. Sogenannte Pushbacks, Abfangak­tio­nen durch die libysche Küstenwache, halten viele Flüchtlinge in einem Kreislauf der Gewalt. Oft werden die abgefangenen Menschen in von Milizen kontrollierte Internierungslager gesperrt, wo sie Folter und sexueller Gewalt ausgesetzt sind. In Libyen herrscht mittlerweile eine unvorstellbare Situation, in der vor allem Schwarze Menschen regelrecht versklavt werden.

Was fordern Sie angesichts dessen von der EU?

Wir haben verschiedene Forderungen an die EU. Wir fordern, dass die EU die menschenverachtenden Methoden der libyschen Küstenwache nicht nur verurteilt, sondern auch die Finanzierung einstellt. Die zivile Seenotrettung darf nicht behördlich kriminalisiert werden, sondern muss weiterhin im vollen Umfang möglich sein.

Trägt EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Kontext der neuen europäischen Asylsystematik eine Mitschuld daran, dass Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken?

Wir äußern uns als humanitäre Organisation ebenso wenig zu Parteien wie zu einzelnen Politiker:innen. Fakt ist allerdings, dass die EU versucht, sich abzuschotten. Überdies ­reduziert sie das Thema Migration auf ein Problem der Sicherheit, nicht auf eines der Humanität.

Italien unter der rechtsgerichteten Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, aber auch Malta fahren einen besonders rigiden Abschottungskurs.

Am Abend der EU-Wahl schimpfte Sahra Wagenknecht über ein angeblich großes gesellschaftliches Problem: die „unkontrollierte Migration“. Darunter müssten vor allem die Ärmeren leiden.

Das Ausspielen von Mi­grant:in­nen gegen Marginalisierte hat bei Wagenknecht Prinzip. Ihre Partei BSW profitiert von einer Stim­mung, die vor allem den Rechtspopulisten zugutekommt. Das scheint auch eine Folge davon zu sein, dass letzthin selbst die demokratische Mitte in Anbiederung an rechte Narrative das Thema ständig auf die Agenda gehoben hat.

Das Framing von Migration als nur negativ könnte zum trojanischen Pferd werden, das die Demokratie in Europa zerstört, hat die Philosophin Lea Ypi gesagt. Angesichts der Wahlgewinne der Rechten ist jedenfalls zu befürchten, dass sogar der umstrittene EU-Asylkompromiss noch einmal verschärft werden könnte. (os)

Tatsächlich kommunizieren die staatlichen Behörden Maltas gar nicht mehr mit der zivilen Seenotrettung! Mit uns nicht wie auch mit allen anderen Organisationen nicht – auch nicht, wenn sich Menschen auf dem Meer offenkundig in einer Notlage befinden. Diese Haltung widerspricht dem Völkerrecht und auch dem internationalen Seerecht. Abgesehen davon weisen uns die italienischen Behörden vom Einsatzgebiet in weit abgelegene Häfen oder setzten die Seenotrettungsschiffe bis zu 20 Tage fest – was einen schnellen Einsatz verhindert und im Zweifel Leben kostet. Das wollen wir nicht hinnehmen, weil wir retten müssen! Zwar erschwert der politische Kontext unsere Arbeit, aber wir werden weiter im zentralen Mittelmeer aktiv sein.

Viele Politiker in Italien und auch Deutschland werfen Ihnen vor, dass Sie mit Ihren Einsätzen den Migrationsdruck erhöhen. Was sagen Sie zu dieser Argumentation?

Eine Reihe von Forschungsarbeiten zeigt deutlich, dass zivile Seenotrettung im Mittelmeer kein Faktor dafür ist, dass weitere Migration aus Ländern wie Syrien, Bangladesch, Ägypten, Mali oder Sudan gepusht wird. Ganz im Gegenteil. Auch der Vorwurf, wir würden mit Schlepperbanden zusammenarbeiten, entbehrt jeder Grundlage. Fakt ist: Wir retten Menschen vor dem Ertrinken.

Vor welchen Herausforderungen stehen die Seen­o­t­rette­r:in­nen angesichts der vielen Kriege, ob nun in Gaza, der Ukraine, in Mali oder Sudan? Wohin fährt Ihr Schiff in Zukunft?

Julia Leithäuserist Referentin für politische Arbeit und Kommunikation von SOS Mediterranée.

Wenngleich die Kriege in der Ukraine und in Gaza noch keinen unmittelbaren Einfluss auf die Fluchtrouten über das zentrale Mittelmeer haben, haben diese Konflikte doch die humanitäre Notlage auf dem Mittelmeer zu einem Randthema werden lassen. Aber wir dürfen als europäische Demokratie nicht über das Leid hinwegschauen. Deshalb wünschen wir uns für die Zukunft eine größere Akzeptanz der EU-Politik gegenüber unserer Arbeit, die im Zeichen der Humanität steht. Bloße Abschottungspolitik zu betreiben bewirkt am Ende gar nichts. Das kann nicht die Antwort auf bestehende Probleme sein, die durch einen sich verschärfenden Klimawandel in den nächsten Jahren ohnehin nicht weniger werden.

Das klingt ziemlich ernüchternd. Sehen Sie denn irgendwo neue Lösungsansätze?

Es gibt keine einfachen Lösungsansätze bei so einem komplexen Thema wie Migration. Zudem haben wir aktuell Krisen und Konflikte, die die Kom­plexität von Fluchtbewegungen eher noch verstärken. In einer solchen Situation ist es vor allem für demokratische Parteien nicht einfach, sich vereinfachenden populistischen Positionen entgegenzustellen und zugleich Humanität im Umgang mit der Migration einzufordern. Daher ist es umso wichtiger, dass wir mit unserer Arbeit weitermachen.