Hier hat alles einen Nutzen

Mitten in Neukölln-Rixdorf, versteckt in einem Häuserblock, liegt eine wild wachsende Oase: der Garten des „Café Botanico“

Gärtnerin Anne Gudurat freut sich über jede Pflanze - auch über Unkraut

Von Karlotta Ehrenberg (Text und Fotos)

Alles wuchert wild durcheinander – Gemüse und Obst, Blumen und Sträucher sowie das, was man gemeinhin Unkraut nennt. Anne Gudurat freut sich darüber. Ja, für die Gärtnerin könnte es sogar noch etwas mehr sein. Denn das, was hier, mitten in Neukölln, so üppig gedeiht, nennt sich ein Permakulturgarten. Und in den mischt sich der Mensch nur wenig ein. „Wir reagieren auf das, was kommt“, sagt Gudurat.

Konkret bedeutet das, dass sie und ihre Hel­fe­r:in­nen – zwei Schülerpraktikantinnen sowie etliche Ehrenamtliche – Pflanzen an bestimmten Stellen herausnehmen, um Platz für eine Aussaat oder Pflanzen zu schaffen, die man woanders entnommen hat. „Was zu viel ist, kommt auf den Kompost oder als Mulche auf die Beete. Oder wir machen Jauche zum Düngen daraus“, so Gudurat. „Hier hat alles einen Nutzen.“

Eine der Hauptbeschäftigungen der Gärtnerin besteht darin, den Garten ganz genau zu beobachten. Jeden Morgen macht sie erst mal eine Runde und schaut, was sich während ihrer Abwesenheit getan hat. Auf einem Beet stecken Keimlinge ihre hellgrünen Köpfe durch die Erde. „Was habt ihr denn hier gesät?“, will die Gärtnerin von den Praktikantinnen wissen. Die zucken nur lächelnd die Schultern. „Macht nichts“, erwidert Gudurat. „Da wir hier so einen reichen Boden haben, kommt hier eh vieles, das wir nicht selbst gesät haben und erst erkennen müssen.“

Pflanzenbestimmung ist das A und O im Permakulturgarten. Als Quereinsteigerin muss sich Anne Gudurat dieses Wissen immer noch aneignen. Noch oft nimmt sie eine Pflanzenbestimmungs-App zur Hilfe oder fragt den Leiter und Gründer dieses Gartens, Martin Höfft.

Als dieser 2011 begann, das 1.000 Quadratmeter große, brachliegende Land zwischen den Mietshäusern urbar zu machen, waren viele Pflanzen schon da. So etwa der Giersch, der mit seinen tentakelartigen Ausläufern so gut wie alle Beete überragt und wegen seiner unterirdischen Triebe nur schwer zu bekämpfen ist. „Wir haben mit dem Giersch eine freundliche Beziehung“, sagt Anne Gudurat. „Wir wollen ihn auch gar nicht loswerden. Die Wurzeln sorgen für eine bessere Wasserspeicherkapazität im Boden, außerdem nutzen wir den Giersch intensiv in der Küche.“

Die Praktikantinnen sind schon dabei, die jungen Blätter des Gierschs zu sammeln, er macht zurzeit den Hauptbestandteil im Wildkräutersalat des „Café Botanico“ aus. So heißt das an den Garten angegliederte Restaurant, das sich mit seinem Konzept „Garden-to-table“ seit der Eröffnung 2013 weit über Neukölln hinaus einen Namen gemacht hat.

Das Konzept:

Das Konzept der Permakultur stammt von dem Australier Bill Mollison, der es zusammen mit David Holmgren entwickelte. Diese Anbauform setzt auf große Artenvielfalt und eine möglichst naturnahe, nachhaltige Mischkultur. Ein großes Augenmerk liegt zudem auf der Entwicklung eines gesunden Bodens. 1981 erhielt Mollison für seine Arbeit den Alternativen Nobelpreis „Right Livelihood Award“.

Vom Garten ins Restaurant:

Der zum Restaurant „Café Botanico“ gehörende Garten liegt in der Richardstraße 100 in Neukölln-Rixdorf. Gartenbesichtigungen sind während der Restaurant-Öffnungszeiten möglich: Dienstag bis Sonntag ab 17 Uhr sowie Mittwoch, Donnerstag und Freitag zwischen 12 und 15 Uhr. Jeden Mittwoch sind Interessierte zudem eingeladen, sich an der Gartenarbeit zu beteiligen und dabei mehr über das Prinzip der Permakultur zu lernen und selbst zu erfahren. Treffpunkt ist um 10 Uhr. Zudem bietet Martin Höfft am ersten Sonntag im Monat eine Führung durch den Garten an. Mitunter gibt es auch Workshops zu bestimmten Themen. Aktuelles über das Gartenprojekt und das Restaurant auf der Webseite. (keh)

Die wenigen Tische sind oft schnell ausgebucht, um möglichst viele Gäste bewirten zu können, gibt es mehrere Zeitfenster pro Abend. Die saisonal wechselnden Ernteerzeugnisse des Wildgartens stecken nicht nur im Salat, sondern auch in Blumenvasen, der Limonade und in den – meist italienischen – Gerichten. Heute gibt es etwa Crostini mit einer Mischung aus Spinat und Wildkräutern.

„Für viele Gäste ist der Geschmack unserer Wildgemüse erst einmal ungewohnt“, sagt Anne Gudurat. „Gestern haben sich aber auch die Köche beschwert, dass die Crostini-Mischung zu würzig war. Also müssen wir heute noch anderen Geschmack hineinkriegen.“ Die Gärtnerin weiß auch schon wie: Die Blätter der Nachtkerze und des Buchweizens haben einen neutraleren Geschmack, dazu kommen kleingeschnittene Kohlblätter. „Die sind schön süß“, sagt Gudurat.

Um die Blätter zu ernten, brauchen sich die Gärtnerinnen nicht einmal bücken, der Kohl wächst in eine Höhe von bis zu einem Meter. Markstammkohl heißt die Sorte. „Die wurde früher vor allem als Futterpflanze angebaut“, erläutert Anne Gudurat. Auf dem Markt ist dieser Kohl nicht zu finden. „Dabei lassen sich daraus wunderbare Gerichte zubereiten, wie die portugiesische Suppe Caldo Verde“, so die Gärtnerin. „Gut ist auch, dass er so wenig Platz wegnimmt.“ An einer der Kohlpflanzen haben sich Samen gebildet. „Die haben wir extra blühen lassen“, erklärt Gudurat.

Bisher hangelt sich das Projekt von einem befristeten Pachtvertrag zum nächsten

Die Pflanzen im Permakulturgarten sollen sich selbst vermehren. Die Gärt­ne­r:in­nen sammeln die Samen außerdem ein, um sie für eine gezielte Aufzucht zu konservieren. So wurden etwa Tomatenpflanzen vorgezogen, jetzt kommen sie ins Beet. „Heute weht schön viel Wind, da sind die Bienen nicht so viel unterwegs, und wir können auch bei den Bienenstöcken pflanzen“, sagt Anne Gudurat.

Neben Honigbienen gehört zahlreiches anderes Getier in den Garten, selbst Schnecken dürfen hier sein. Eine Praktikantin nimmt eine Weinbergschnecke vom Beet und trägt sie ins Gebüsch. Das wäre gar nicht nötig, meint Anne Gudurat. „Schnecken mit Gehäuse sind harmlos.“ Aber auch gegen Nacktschnecken wird nicht viel unternommen. Und ob die kleinen Hauben die jungen Maispflänzchen vor den gefräßigen Weichtieren schützen werden, ist ungewiss.

Jeden Mittwoch sind Interessierte eingeladen, sich an der Gartenarbeit zu beteiligen und dabei mehr über das Prinzip der Permakultur zu lernen

Anne Gudurat lässt sich davon nicht aus der Ruhe bringen: Aufgrund der Mischkultur im Naturgarten gibt es immer Pflanzen, die robust genug sind, um sich durchzusetzen – zur Not kommt eben etwas anderes auf den Tisch. Auch hält sich der Schaden durch Schnecken und andere Schädlinge in Grenzen, wenn Pflanzen auf natürliche Weise wachsen.

Die Pflanzenvielfalt sorgt außerdem für einen gesunden Boden, und der ist buchstäblich die wichtigste Grundlage für einen Permakulturgarten. Über 200 Arten wachsen inzwischen im Garten des „Botanico“. Die Gärt­ne­r:in­nen halten darüber genau Buch und haben einen genauen Überblick, wie der Garten in seinem Volumen stetig wächst.

Über 200 Pflanzenarten wachsen inzwischen im Garten des „Botanico“

Ein kleiner Urwald ist in den vergangenen 13 Jahren auf der ehemaligen Brache gewachsen, Tische laden Be­su­che­r:in­nen zum Verweilen ein. Wer will, darf mitarbeiten, geerntet wird das ganze Jahr über. Zur Haupterntezeit im Sommer sind helfende Hände sehr gefragt. Bisher kann sich das „Botanico“ nur eine fest angestellte Gärtnerin leisten. Gründer Martin Höfft ist nach wie vor gezwungen, sein Brot anderweitig zu verdienen, gärtnern kann er nur nebenher. Unglücklich ist er darüber jedoch nicht. „Fehlende Zeit ist in einem Naturgarten durchaus ein Gestaltungselement“, sagt er der taz. „Man lernt mit der Zeit, sich auf die kritischen Prozesse zu beschränken, und übergibt der Natur einen Teil der Kontrolle.“

Ganz aufgegangen sei sein Konzept jedoch nicht, räumt Höfft ein: „Es war etwas naiv zu glauben, über eine Gas­tronomie ein Nachhaltigkeitsprojekt finanzieren zu können. Gastro ist schon schwer genug.“ Neben den Schwierigkeiten, sich an dem etwas abgelegenen Standort in Rixdorf zu etablieren, kamen Corona, die Inflation und eine Steuererhöhung hinzu. Um das Projekt langfristig zu halten, wollen Höfft und seine Mit­strei­te­r:in­nen neue Wege einschlagen, etwa über Bildungsarbeit.

Dafür muss allerdings ein weiteres Problem gelöst werden: Bisher hangelt sich das Projekt von einem befristeten Pachtvertrag zum nächsten. „Die Vermieter sind fair und kooperativ, aber wir müssen immer damit rechnen, dass es hier nicht mehr weitergeht. Langfristig muss ein anderer Ort gefunden werden“, sagt Martin Höfft. Damit es auch in den nächsten Jahrzehnten weiter wuchert in Neukölln