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taz-Serie „Engagement macht Schule“ (Teil 4): An der Ferdinand-Freiligrath-Schule machen Fachleute, Lehrer und Schüler gemeinsam Unterricht – und reparieren zum Beispiel Fahrräder

VON ANNA LEHMANN

Ein Fahrrad ist eine Welt für sich, komplex und voller Probleme. Tarek soll Speichen in eine Felge ziehen, die dünnen Metallstangen aber sind sperrig und lassen sich von seinen schmalen Händen nur widerspenstig einpassen. Ein kleiner, drahtiger Mann nimmt ihm das Rad aus der Hand, betrachtet es prüfend. „Mensch, guck mal, hier stimmt was nicht. Das sind Drei-Punkt-Speichen, die heißen so, weil sie sich dreimal kreuzen. Deine kreuzen sich nur zweimal.“ Er gibt Tarek das Rad zurück. „Das ist ein eigenes System, aber wenn du lange genug draufstarrst, erkennst du das Muster“, sagt er ermunternd.

Der Mann heißt Bernd Stolarek, ist gelernter Vulkanisiermeister und betreibt drei Fahrradläden. Tarek ist nicht sein Lehrling, sondern ein 15-jähriger Schüler der Ferdinand-Freiligrath-Schule in Kreuzberg. Bernd Stolarek kommt jede Woche aus Wriezen in Brandenburg für vier Stunden in diese Schule und repariert mit Tarek und seinen Mitschülern Fahrräder.

An der Ferdinand-Freiligrath-Schule unterrichten außer Bernd Stolarek noch elf Menschen, die wie er von Berufs wegen keine Lehrer sind, sondern Künstler, Gastronomen oder auch Artistentrainer. Sie bringen den Geruch, die Sprache und die Eigenarten ihrer Lebenswelt mit in die Klassenräume.

Vor 15 Jahren verpflichtete die Schule die ersten Externen. Was damals als Notprogramm für eine Hauptschule begann, deren Schüler den Sinn des Lernens aus den Augen verloren hatten, ist heute ein ordentlicher Schulversuch des Landes Berlin. Für ihre Arbeit mit den Dritten, wie die Fachleute von draußen hier genannt werden, hat die Schule ein eigenes Unterrichtskonzept entwickelt. 14 von 30 Wochenstunden gehören der Arena. Sie ist so etwas wie die Probebühne des Lebens. Real- und Hauptschüler lernen in den Arenen-Stunden über Fächer- und Altersgrenzen hinweg, aufgeteilt nach Neigungen. Ihre Klassen suchen sie sich vor Beginn des ersten Schuljahres selbst aus und können dort bis zum Abschluss bleiben.

Die Fahrradwerkstatt steht regulär auf dem Stundenplan der Klasse „Mobilität“, den an einem Fahrrad kann man eine Menge über die Welt lernen. Wie man Probleme löst zum Beispiel. Acht Jungen verschiedenen Alters arbeiten unter Stolareks Anleitung in einem Werkraum. Es riecht nach Schmieröl. „Wenn was nicht gleich klappt, dann wird es meistens hingeschmissen, anstatt mal über andere Wege nachzudenken“, sagt der Fahrradexperte und verdreht genervt die Augen hinter runden Brillengläsern. Dann blickt er besänftigt zu Tarek: „Der ist schon viel geduldiger geworden, wie er da versucht die Speichen reinzupulen.“

Währenddessen reparieren Hassan und Ahmad das Fahrrad der Reinigungskraft. Ahmad ist ernst und männlich, Hassan, ein 1,90 Meter großer Schwergewichtler, redselig und im Moment verärgert: „Mann, das Fahrrad ist älter als die Putzfrau.“ Er tippt mit dem Schraubenschlüssel gegen die losen Bremsen. „Ich mach das hier nur wegen Herrn Bartusch“, stellt er klar und schaut rüber zu dem graubärtigen Lehrer für Arbeitslehre. Ein Lehrer ist bei den Praxisstunden immer dabei. „Mit dem kann man reden, der versteht uns. Wenn ich ihn Dickerchen nenne, beleidigt er uns zurück“, sagt Hassan. Korrekt sei Bartusch, findet auch Ahmad: „Ich hab gehört, dass er sein Studium auf dem zweiten Bildungsweg gemacht hat. Einer von uns eben.“

Bartusch war 1989 gerade als Lehrer für Arbeitslehre an der Freiligrath-Schule angestellt worden, als neue Leute aus dem Arbeitsleben, aber ohne Staatsexamen dazustießen. Er erlebte mit, wie sich durch sie die Schule veränderte: „Das ist etwas ganz anderes, wenn einer von außen mit dabei ist“, sagt er. Das gelte sowohl für die Schüler als auch für ihn als Lehrer. „Wenn Lehrer jahrelang unterrichten, schleicht sich eine gewisse Gleichmäßigkeit ein. Da kann es ganz nützlich sein, wenn plötzlich jemand Drittes sagt: Moment mal, das ginge doch auch anders.“

Trotzdem: Dass er so lange dabei sei, habe nichts mit der übermäßigen Begeisterung für das Projekt zu tun, stellt Bartusch klar. Er hat sich damit eingerichtet und bemüht sich, die hohen Anforderungen, die das Arena-Konzept an die Lehrenden stellt, mitzutragen. „Ich sag mal, eigentlich müsste ich hier in der Arena von allen Fächern ein bisschen machen. Aber Fremdsprachen fallen zum Beispiel weg, in Englisch bin ich ’ne Null“, gibt er zu. „Auch das altersgemischte Lernen hat gewisse Nachteile.“ Arbeitsschutz müsse er für die Neuzugänge jedes Jahr neu erklären: „Da schalten die Älteren ab, das ist für die verlorene Zeit.“

Bernd Stolarek mischt sich ein. „Also wenn ich hier was gelernt habe, dann, dass die Jungs von so einer Lernform tausendmal mehr haben als vom stinknormalen Unterricht.“ Bartusch holt Luft: „Wir müssen auch die Grundlagen beachten. Es gibt gewisse elementare Dinge, und die kann man nicht mal eben zwischendurch in einer Werkstatt lernen.“ „Ja, ja, hast Recht, Peter“, stimmt Stolarek bei. „Was nützen einem Lehrlinge, die nicht lesen und schreiben können.“ Bartusch sei hier die große Autorität, sagt Stolarek. „Ich halte mich da eher in seinem Windschatten.“ Aber sie sind ein Team: Stolarek ist der Fachmann fürs Praktische, Bartusch der Lehrer, der die Probleme auffängt. Und die sind zwar kleiner geworden, aber nicht verschwunden mit dem Einzug der Dritten. In den Kursen, wo Grammatik und Formeln gepaukt werden, sind die Schüler wieder ganz Schüler. „Da haben wir dann auch die entsprechenden Fehlzeiten“, sagt Bartusch.

Die Brücke zu schlagen zwischen dem Unterricht nach Lehrplan und den projektorientieren Arenen, fordert Schüler, Lehrer und Dritte stets aufs Neue. Spannungen waren abzusehen. „Es ist ein Grundproblem der Institution Schule, sich stets auf neue Situationen einzulassen“, meint Schulleiterin Hildburg Kagerer. Gleichwohl sei das notwendig.

Die zierliche, schwarzhaarige Schulleiterin ist selbst keine typische Lehrerin. Bevor sie sich Anfang der 90er-Jahre ganz dem Plan verschrieb, Profis in die Schule zu holen, arbeitete sie als analytische Kinder- und Jugendpsychologin. Ihr Büro ist so eingerichtet, dass Besucher sich entspannen können. „Wir müssen an den Stärken der Kinder ansetzen. Dazu gehört, die Schulen, in denen zentrale Weichenstellungen passieren, mit der Gesellschaft zu verknüpfen.“ Dieser Punkt ist ihr wichtig. Nicht nur Lehrer und Sozialpädagogen, sondern Menschen aus allen Bereichen müssten Verantwortung für kommende Generationen übernehmen. „Da reichen Spenden nicht aus.“ Schule müsste ein Zentrum werden, wo Leute zusammenarbeiten, eine Arena, die offen sei zur Gesellschaft.

Er habe eine Menge über den Islam gelernt, übers Fasten und so, berichtet der Fahrradmeister Stolarek. Der Lehrer Bartusch weiß inzwischen alles über Fahrräder und etwas mehr über die starken und schwachen Seiten seiner Schüler im Alltag. Tarek und Hassan kennen sich gut bei Fahrrädern aus, aber ihr Berufswunsch ist das nicht. Das Nahziel ist der Realschulabschluss.

Nach diesem Block hat die Klasse Erdkunde, richtigen Unterricht, wie Hassan meint. „Hier musste noch ölen“, sagt Ahmad. „Mann, hab ich schon, ich hab gearbeitet und mir die Hände schmutzig gemacht“, entgegnet Hassan und mustert prüfend seine hellen Jeans. „Bist ’n richtiger Mann“, nickt Ahmad.