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: „Antworten auf ungestellte Fragen“

Texte, Filme, Musik: eine offenherzige neue Lesebühne als Mittel gegen die Resignation

Interview Sarah Lasyan

taz: Frau Seddig, Sie beschreiben Ihre neue Musik-Film-Lese-Bühne als künstlerisches Experiment. Ist die gewöhnliche Lesebühne auserzählt?

Katrin Seddig: Ich weiß nicht, ob Lesebühnen heute auserzählt sind – es gibt sie ja noch und sie sind teilweise auch gut besucht. Die Idee für das neue Format hatte ich, weil ich mich aus der Anpassung befreien wollte, Texte für das Publikum und auf ihre Reaktion hin zu schreiben. Die meisten Lesebühnen sind humoristisch ausgerichtet. Nicht alle, aber mich hat das irgendwie gestört.

Was genau stört Sie?

Ich möchte Texte nicht daraufhin schreiben, dass ich mir beim Lesen schon überlege, ob jemand darüber lachen wird, oder mich immer nur mit Leuten messen, die Texte schreiben, über die gelacht wird. Wir wollen das auf die Bühne bringen, worauf wir selbst Lust haben, etwas, das vielleicht auch das Publikum ­herausfordert.

Wie das?

Indem nicht nur klassische, sondern auch experimentelle Texte, Lyrik, Theater- und Prosatexte auf die Bühne kommen. Und dann hatte ich eben die Idee, den künstlerischen und herausfordernden Anspruch auf andere Bereiche auszudehnen. Da bot sich Film und Musik ohne Gesang an, weil unsere Veranstaltung eher textlastig ist.

„Wir sind spät, aber es ist noch heute“ ist der Titel. Worauf möchten Sie damit hinaus?

Foto: privat

Katrin Seddig

*1969 in Strausberg, ist Schriftstellerin und taz-Kolumnistin. Bis 2022 war sie Mitglied der Hamburger Lesebühne „Liebe für Alle!“.

Das ist aber eine gemeine Frage (lacht). Wir haben lange über den Titel nachgedacht und diskutiert, bis er zufällig an dem Abend entstanden ist, an dem wir einen Titel für die Veranstaltung finden mussten. Um kurz vor 23 Uhr hatte ich in den Chat geschrieben: „Ich bin spät, aber es ist noch heute“, und da meinten die anderen: Das ist er! Ich glaube aber, das ist nicht alles, was der Titel bedeuten kann.

Was noch?

Ich habe das Gefühl, dass die gesellschaftliche Situation ganz schön festgefahren ist – umweltmäßig, politisch… Mit einer Bühne verbinde ich die Hoffnung, dass ich als künstlerisch arbeitende Person auch auf künstlerische Weise aktiv sein kann: eine künstlerische Art gesellschaftlichen und politischen Engagements. Dass wir eben nicht den Kopf in den Sand stecken, sondern sagen, wir sind zwar spät, aber wir können noch etwas tun.

Sie versprechen „Antworten auf ungestellte Fragen“. Welche sind das?

Ich persönlich frage mich natürlich, funktio­nieren die Sachen, die wir auf die Bühne bringen möchten, die uns gefallen und die wir möglichst keinen wirtschaftlichen Zwängen unterwerfen wollen, als Ganzes? Das ist eine Frage, die aber bereits gestellt ist. Antworten auf ungestellte Fragen zu finden, bedeutet: Die Frage ergibt sich vielleicht erst, wenn die Antwort bereits vorliegt. Diese ist sozusagen der künstlerische Beitrag. Der Prozess wird im Idealfall also umgedreht: Aus der Antwort entsteht die Frage.

Musik-Film-Lese-Bühne „Wir sind spät, aber es ist noch heute“, mit Julia Herrgesell, Herbert Hindringer und Katrin Seddig (Text), Katharina Stiel und Thea Seddig (Film), Christian Höhn (Trompete) und Anton Deyß (Gitarre): Do, 6. 6., 20 Uhr, Hamburg, Thalia Theater/Nachtasyl (nur Abendkasse)

Ist die Lesebühne auch ein Ort, um herauszufinden, wie gut ein Text funktioniert?

Die Bühne ist auf jeden Fall ein sehr guter ­Resonanzraum. Es ist eine andere Wirksamkeit als ein Buch, das gedruckt ist: unmittelbarer. Ich habe das Gefühl, auf der Bühne gesellschaftlich wirksamer zu sein, obwohl das ­natürlich gar nicht stimmt, weil man mit ­einem Buch viel mehr Menschen erreichen kann. Aber es fühlt sich so an, es ist ein größeres Wagnis, unkorrigierter, mehr Experiment.

Neben dem Lesen zeigen Sie auch Kurzfilme, DJs legen Instrumentalmusik auf …

Die neue Bühne ist in diesem Sinne ein ­Experiment, weil wir nicht genau wissen, was die Anderen machen. Und das soll auch so sein. Zwar ist es dadurch möglich, dass das Einzelne oder auch alles zusammen scheitert. Aber das lässt eben ganz viel Freiraum.