Wie ein böses Tier

Das Publikum bei den French Open entscheidet mit brutaler Grausamkeit über Wohl und Wehe eines Spielers

PARIS taz ■ Da fehlte nur noch die Toga. Wie weiland zu Neros Zeiten reckten die Leute auf dem Court Central in Paris den Daumen Richtung Boden und forderten ein Opfer. Minutenlang gaben sie keine Ruhe; pfiffen und johlten, trampelten und protestierten. Der junge Mann auf dem Schiedsrichterstuhl, Damian Steiner aus Argentinien, hatte sich ihren Zorn mit einer fragwürdigen Entscheidung zulasten des Franzosen Sébastien Grosjean im Spiel gegen Rafael Nadal zugezogen. Selbst als das Match endlich weiterging, pfiffen sie noch, danach vorzugsweise bei Punkten des Spaniers. Zum Glück begann es bald danach zu regnen, Steiner ließ die Partie dankbar abbrechen und ersparte sich damit weiteres Theater. Die renommierte Sportzeitung L’Equipe schrieb anderntags von einem „schändlichen Tumult“.

Keine Frage, dieses Publikum in Paris ist ein unberechenbares Tier; leicht zu reizen und gefährlich wie bei keinem anderen Grand-Slam-Turnier. Es sucht sich Opfer und Gefährten nach Lust und Laune. In Melbourne begeistern sich die Leute für jedes tolle Spiel, in Wimbledon pflegen sie fairplay, in New York wollen sie Spaß und Spektakel. In Paris aber sind sie exaltiert bis hin zur Bösartigkeit. „Das hier wird nie ein normales Turnier sein“, hat der Rumäne Ion Tiriac mal gesagt, der die French Open seit 40 Jahren kennt, zuerst als Spieler, danach als Manager und als Beobachter mit Geld und Macht.

Immer wieder entscheidet dieses Publikum über Wohl und Wehe eines Spielers. 1989 haben sie der kleinen Spanierin Arantxa Sanchez-Vicario zugejubelt, als die sensationell gegen die damals ach so kühle Steffi Graf gewann; sieben Jahre später pfiffen sie Sanchez gnadenlos aus, weil die sich während des Turniers zu oft erlaubt hatte, Mondbälle zu spielen. Nach dem erneuten Finale gegen Graf, die nun auf einmal geliebt und gefeiert wurde, sagte die Spanierin bei der Siegerehrung unter Tränen: „Ich spiele gern für euch, auch wenn ihr mich nicht mögt.“

Im Endspiel drei Jahre später – kurioserweise war wieder Graf beteiligt – machte die damals 18 Jahre alte Martina Hingis den Fehler, der Schiedsrichterin einen Irrtum mit einem wahnwitzigen Marsch auf Grafs Seite nachzuweisen. Danach wurde sie vom Publikum nicht einfach nur ausgepfiffen, sondern mit Haut und Haaren verschlungen. Von Weinkrämpfen geschüttelt, verzweifelt wie nie zuvor und nie danach, wäre Hingis damals ohne gutes Zureden ihrer Mutter nicht zur Siegerehrung erschienen.

Zugegeben, sie hatte ihr Schicksal ebenso selbst verschuldet wie Serena Williams vor zwei Jahren, aber die Heftigkeit der Reaktion stand dennoch in keinem Verhältnis zum Vergehen. Nachdem die Amerikanerin sich im Viertelfinale gegen Amélie Mauresmo aufgeführt hatte, als wolle sie die Französin mit Blicken töten, musste Williams dafür zwei Tage später im Halbfinale gegen Justine Henin büßen, als das Publikum selbst ihre Doppelfehler bejubelte. Dass die Franzosen mit plaisir Franzosen siegen sehen, kann man ihnen nicht vorwerfen, das ist ja normal. Aber selbst dabei leisten sie sich ihre Launen. Henri Leconte, der später oft gefeierte Held, hatte in den Anfangsjahren Schwierigkeiten, Unterstützung zu finden, weil man ihn für eine Heulsuse hielt. Und auch Mary Pierce, die in Kanada geborene und in den USA aufgewachsene Französin, hat anfangs in Paris mehr Pfiffe als Beifall gehört. „Die Leute mögen es überhaupt nicht, wenn du verlierst; dann sind sie sehr, sehr schroff zu dir“, sagt Pierce. Sie erinnert sich nicht gern an diese Zeit.

Wen sie nicht siegen sehen wollen, dem machen sie das Leben schwer; und wen sie mögen, den tragen sie ins Ziel. Vor allem junge Spieler tun sich oft schwer damit, das zu ertragen, und umso bemerkenswerter war, wie sich Rafael Nadal gegen Grosjean im Sturm der Emotionen bewährte. Er ließ sich den Schneid nicht abkaufen und zeigte weiter die Faust nach guten Punkten, aber er übertrieb es nicht mit seinen Gesten. Wer weiß, wie die Sache ausgegangen wäre, hätte es an diesem Abend nicht rechtzeitig zu regnen begonnen. Vielleicht so wie in einer Partie anno 87 zwischen einem Franzosen namens Éric Winogradsky und dem Tschechen Karel Novacek. Nach einer umstrittenen Entscheidung von Schiedsrichter Bruno Rebeuh pfiffen die Leute damals 17 Minuten lang und waren auch nicht zu beruhigen, als beide Spieler ans Mikrofon gingen und erklärten, Rebeuh habe keinen Fehler gemacht. Erst der Einspruch des Oberschiedsrichters brachte sie zur Ruhe. Das ist oft die letzte Lösung – oder der Himmel spricht ein Urteil und öffnet die Schleusen.

DORIS HENKEL