BERNHARD PÖTTER über KINDER
: Was ist der Sinn des Überlebens?

Mit Kindern im Zoo (Teil I): Was kann ein Tapir? Was ein Wombat? Der Terror der Nützlichkeit hat die Tierwelt erreicht

Die wirklich wichtigen Fragen stellt Jonas gleich am Eingang des Zoos. Wir sind gerade an den Elefanten vorbei. Steuern in Richtung Nilpferdhaus. Jonas steht an einem Käfig. Dahinter ein Tier, das aussieht wie ein glatt rasiertes Wildschwein. Er dreht sich zu mir um: „Und was kann der jetzt?“

Es ist ein Tapir. Was kann ein Tapir? Wir stehen da und gucken. Der Tapir steht da und guckt. Wir gehen weiter. Der Tapir trabt im Gehege rum. Ich hole eine Apfel aus dem Rucksack und beiße rein. Der Tapir wühlt in seinem Fressen. „Der Tapir kann alles, was wir auch machen“, sage ich zu meinem Sohn.

Der Eingang zum Zoologischen Garten in Berlin ist angelegt wie im Kaufhaus: Gleich hinter den Kassen locken die Sensationen, die man von außen sehen kann (Elefanten). Wegweiser versprechen noch viel größere Attraktionen im Innern (Robben, Löwen, Pommes). Und zwischen den Sonderangeboten stehen die Grabbeltische mit den Exponaten, bei denen der Hinterkopf sagt, dass man sie jetzt gerade nicht braucht, aber irgendwann vielleicht doch mal: Topfkratzer. 16-bändige Lexika. Ein Tapir.

Bei den Gürteltieren hat Jonas die nächste anthropozentrische Killerfrage: „Wozu ist so ein Gürteltier gut? Macht es Gürtel?“ Er zieht seine Hose hoch. „Nein“, sage ich, „das Gürteltier macht keine Gürtel. Es frisst Ameisen.“

Wenigstens das also. Plötzlich gehen wir mit den Augen von McKinsey durch den Zoo. Wer kann hier was? Wozu sind die Viecher gut? Wer liegt nur faul rum? Wer frisst das teuerste Essen? Wen will eigentlich niemand sehen? Der Terror der Nützlichkeit hat uns in seinen Fängen: Was heißt hier Nutztiere – niemand braucht mehr Kamele, seit es den Toyota Landcruiser gibt. Wozu nützen Pferde, wenn uns ihre Goldmedaillen bei Olympia doch aberkannt werden? Können die Löwen ihre Speisereste nicht selbst wegräumen – müssen sie diese Tätigkeit an die Hyänen outsourcen? Und diese vielen Vögel – schön bunt. Aber kein Schwein würde es bemerken, wenn sie als Sparmaßnahme nur jede zweite ökologische Nische besetzten.

„Aber die Pinguine sollen bleiben“, sagt Jonas. Nun gut, sie stören niemanden. Und überhaupt bemerken wir, dass es eine Menge nützlicher Tiere gibt: Die Kängurus zum Beispiel sorgen für Spannung auf den schnurgeraden Straßen Australiens. Der Wombat könnte den Rohstoff für coole neue Produktnamen liefern („Der neue VW Wombat CDI Turbo mit Seitenairbag“). Elefanten dienen nicht nur dazu, den Verkehr in Bangkok zu entschleunigen, sondern auch als sprechende (B. Blümchen) oder fliegende (Dumbo) Kinderfreunde. Gämsen/Gemsen sind unverzichtbar, will man eine heiße Debatte um die Rechtschreibreform vom Zaun brechen. Und ohne Heuschrecken und Raubtiere keine Kapitalismusdebatte.

Nach drei Stunden im Zoo ist klar: Tiere sind wie überqualifizierte Doktoranden mit Soziologie-/Linguistik-/BWL-Abschluss: Sie können furchtbar komplizierte Dinge. Aber kaum was Nützliches. Wahrscheinlich sind sie deshalb eingesperrt.

Irgendwann wendet sich der Homunkulus natürlich gegen seinen Schöpfer. „Papa, was kannst du eigentlich?“, fragt Jonas, während er den Pandabären beim Dösen zusieht. Tja. Eierkuchen braten. Dumme Fragen stellen. Kinder durch den Zoo treiben. Aber wozu bin ich gut? Vor allem bin ich ein Alphamännchen, das dafür sorgen muss, dass seine Brut genug Betakarotin bekommt. Dass der Kühlschrank gefüllt ist. Dass immer genug Mäuse auf dem Girokonto sind. Reicht das als Daseinszweck?

Wir stehen im Vogelhaus. Vor uns sitzt die weiße Eule. Sie gilt allgemein als weise. Und jetzt? Guckt sie starr geradeaus und blinzelt nicht mal. Ein Verdacht steigt in mir auf: Der Eule geht es wie mir. Sie hat keine Ahnung vom Sinn des Überlebens. Sie kümmert sich auch nur um eines: die Mäuse.

nächste Folge: Affen – zu Besuch bei der Verwandtschaft

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Fotohinweis: BERNHARD PÖTTER KINDER Fragen zum Nutzwert? kolumne@taz.de Morgen: Josef Winkler ZEITSCHLEIFE