Einmal Entscheider sein!

Am Sonntag haben die Franzosen die EU-Verfassung abgelehnt. So viel demokratische Teilhabe kann neidisch machen: Warum durften die Deutschen nicht abstimmen? Aus Mangel an politischer Kultur?

VON ARNO FRANK

„Durchwinken“ ist ein lustiges Wort. Während das reine Winken immer auch ein Grüßen ist, bedeutet Durchwinken das genaue Gegenteil. Wir begegnen dieser lässigsten aller bürokratischen Gesten höchstens noch bei der Passkontrolle am Flughafen, wenn uns der Beamte mit einer fächelnden Handbewegung signalisiert, dass er uns in Augenschein genommen hat und für harmlos hält, vielleicht sogar für uninteressant. Verzichtet also die staatliche Autorität auf ihr Recht einer eingehenden Prüfung, dann winkt sie eben durch.

Gerade so, wie es der Bundestag unlängst mit dem Entwurf einer europäischen Verfassung gehalten hat – uns zuliebe, wenn auch weitgehend unbemerkt von uns. Warum sollten wir überhaupt zur Kenntnis nehmen, was wir nicht einmal abnicken dürfen? Um unseren Volksvertretern angemessen dankbar sein zu können dafür, dass sie uns mal wieder die Zumutung erspart haben, eine sehr weitreichende, unheimlich wichtige und fürchterlich komplizierte Entscheidung zu treffen? Sieht ganz so aus. Wo kämen wir denn hin, wenn ein Staat seine Bürgerinnen und Bürger an solchen Entscheidungen partizipieren lässt? Nach Frankreich.

Während in Deutschland vor allem die Vergangenheit („Speer und Er“ etc.) die Schlagzeilen dominierten, zankten sich die Franzosen öffentlich über den richtigen Weg in die Zukunft. Dabei ging es um knifflige Fragen: Ist die Globalisierung aufzuhalten? Ist Europa mehr als der Euro? Solche Sachen.

Und es war, als würde die ganze Nation einen Volkshochschulkurs im Fach „Verfassungsrecht“ belegen, um beim Referendum kompetent abstimmen zu können. Die armen Franzosen – sollen wir sie nun für ihre demokratische Kultur beneiden oder bemitleiden?

Im Kern ging es „nur“ um die 500 Seiten der EU-Verfassung, die in mehr als 40 Millionen Exemplaren an die Haushalte verschickt wurden – obgleich es kaum 40 Staatsrechtler geben dürfte, die über das komplexe Vertragswerk ein einhelliges Urteil fällen könnten. Ernsthaft interessierte Wählerinnen und Wähler griffen daher zu den „Bedienungsanleitungen“ von Experten, deren Bücher bald die Bestsellerlisten anführten, während die staatliche Autorität alle ihre Medien für den Zweck mobilisierte, das wankelmütige Wahlvolk zum Durchwinken zu bewegen.

Im Handgemenge der widerstreitenden Meinungen dauerte es denn auch nicht lange, bis Intellektuelle wie der Philosoph Paul Virilio die rhetorische Sinnfrage stellten: „Welche Legitimität besitzt eine Referendumspraxis eigentlich, bei der eine der Wahlalternativen von sämtlichen politischen Organisationen und vom Medienapparat des Landes nicht nur verunglimpft, sondern auf übelste Weise beschimpft wird?“

Nun könnte man Virilio erwidern, die Praxis der Volksabstimmung habe sich am Sonntag dadurch bewährt, dass sich das Stimmvolk bei seinem „Non“ vom Lärm der „Oui“-Parteien eben nicht hat beeinflussen lassen. An den prinzipiellen Einwänden Virilios gegen das Plebiszit ändert das Ergebnis freilich nichts, ist für ihn der Volksentscheid doch nur ein „lascher Konsens, eine gütliche Lösung für eine Bevölkerung, die nach den Exzessen der Meinungsumfragen allen möglichen Gehirnwäschen ausgesetzt ist“.

Demnach gehe es immer weniger um Meinungen, dafür aber immer mehr um manipulierbare Stimmungen. Und am Ende dieser Entwicklung stünde eine leicht lenkbare Stimmungsdemokratie, in der das Volk „nur noch reflexhaft auf die jeweiligen Wahlanfragen reagieren“ würde. Im Falle unserer Volksvertreter sind diese Reflexe das Abnicken und das Durchwinken.