PRO: DAS NEIN ZUR VERFASSUNG FÖRDERT DEN MÜNDIGEN BÜRGER
: Großer Sprung für die EU

Am Sonntag hat Frankreich eine kontinentale Premiere geboten. Nach jahrelangen Rückzügen aus der öffentlichen Sache haben die Bürger eines EU-Landes erstmals die Politik zurückerobert. Dass dies in Frankreich stattgefunden hat, einem Land, das in der Geschichte vielfach historische Umwälzungen angestoßen hat, ist kein Zufall.

Die zweite positive Nachricht: Ein halbes Jahrhundert nach der Gründung der Gemeinschaft ist erstmals eine Debatte über Inhalte und Ziele der EU von oben nach unten verlagert worden. Wider Erwarten hat sich das französische Volk für das widersprüchliche, komplizierte und lange Sujet der Verfassung begeistert. Am Ende dieser von Anfang bis Ende auf die EU konzentrierten Debatte entschied sich eine große Mehrheit der Franzosen für ein sozialeres und solidarischeres Europa.

Die nationalen und europäischen Verantwortlichen haben diesen öffentlichen Prozess genau beobachtet. Wer von ihnen jetzt behauptet, die Franzosen hätten aus nationalen Motiven entschieden, tut das wider besseres Wissen. Als einzige Begründung dafür kann gelten, dass das Resultat des Referendums für manche unangenehm ist. Es ist unangenehm für jene Verantwortlichen, die sich jetzt Gedanken über eine veränderte Verfassung machen müssen, und für jene Regierungen, die gar nicht erst versucht haben, ihre Wähler an der Debatte über die EU-Verfassung zu beteiligen.

An diesen interessierten, mündigen und fordernden Bürgern müssen sich fortan die nationalen und europäischen Verantwortlichen messen. Wer sich dem verweigert und die Wähler als „naiv“ oder – schlimmer – von „Demagogen verführt“ beschimpft, zeigt ein gespaltenes Verhältnis zur Demokratie. Und eine gefährliche Missachtung des Volkes.

Es war ein historischer Fehler der regierenden europäischen Linken, dieser EU-Verfassung auf der Spitzenebene zuzustimmen. Doch noch fataler wäre es, das Monopol der Kritik am Marktliberalismus den Nationalisten und Rechtsextremen zu überlassen. Die französische Linke hat in den vergangenen Monaten bewiesen, dass das auch anders geht. Damit hat sie die EU einen großen Sprung vorangebracht. DOROTHEA HAHN