Blair will Ratifizierung stoppen

AUS DUBLIN RALF SOTSCHECK

„Manche Franzosen verstehen die moderne Welt nicht“, sagte der britische EU-Kommissar Peter Mandelson gestern. „Sie mögen weder die Politik der offenen Märkte noch freieren Handel, Reformen der Wirtschaft oder der Agrarpolitik. Und sie mögen keine Reformen im sozialen Bereich. All das steht in der Europäischen Verfassung, die ihnen fremd erscheint: irgendwie angelsächsisch.“ Mandelson, ein enger Vertrauter des Premierministers Tony Blair, fügte hinzu, das französische Referendum habe die Spannungen zwischen Frankreich und Großbritannien über die gegensätzlichen Visionen von Europa offen gelegt.

Außenminister Jack Straw sagte, er sei persönlich sehr traurig über das Ergebnis. „Ich denke, dass es eine sehr gute Verfassung war, von der nicht nur Großbritannien profitiert hätte“, sagte er. Straw forderte eine „Zeit der Reflexion“ in allen EU-Mitgliedsländern. Großbritannien werde das morgige Votum in den Niederlanden und den EU-Gipfel in zweieinhalb Wochen abwarten, bevor man eine Entscheidung treffe. Straw versprach erneut, dass Großbritannien ebenfalls ein Referendum durchführen werde, sollte der Ratifizierungsprozess trotz der französischen Ablehnung weitergehen.

Die Europagegner sehen darin freilich keinen Sinn. Timothy Kirkhope, Tory-Abgeordneter im Europaparlament, glaubt, dass die Verfassung gestorben sei. „Falls die EU-Regierungschefs dennoch weitermachen wollen, sollten wir in Großbritannien unverzüglich einen Volksentscheid herbeiführen“, sagte er.

Blair, der zurzeit Urlaub in Italien macht, dürfte über das französische Ergebnis erleichtert sein. Es ermöglicht es ihm, beim nächsten EU-Gipfel darauf zu drängen, den Ratifizierungsprozess zu stoppen. Der Verlierer wäre in diesem Fall der Schatzkanzler und designierte Blair-Nachfolger Gordon Brown. Es galt bisher als sicher, dass Blair nach einem EU-Referendum im nächsten Jahr sein Amt an Brown übergeben würde – entweder als strahlender Sieger oder als gedemütigter Verlierer. Ohne Referendum ist der Zeitpunkt für Blairs Rücktritt ungewiss.

Gestern äußerte sich der Premier: „Es geht um eine tiefere Frage: um die Zukunft Europas und im Besonderen um die Zukunft der europäischen Wirtschaft.“ Am 1. Juli übernimmt Blair die EU-Präsidentschaft. Er muss damit rechnen, dass der französische Präsident Jacques Chirac ihm einen Großteil der Schuld am französischen Nein gibt, da die Verfassung stark von Großbritannien beeinflusst ist.

Superoptimisten hoffen, dass man die Neinsager zu Jasagern machen kann, indem man einige Veränderungen vornimmt. Der Großkommentator Timothy Garton Ash ist da skeptisch: „Blair ist 1997 mit dem Versprechen angetreten, Großbritanniens Zweifel an Europa auszuräumen. Nun steht er mit seiner Präsidentschaft vor einem viel größeren Problem: Europas Zweifeln an sich selbst.“