Nein löst in Türkei keine Panik aus

Ankara vertraut auf geschlossene Verträge und erwartet Beginn der Beitrittsverhandlungen. Aber Unmut wächst

ISTANBUL taz ■ Mit demonstrativer Gelassenheit reagierten gestern führende türkische Politiker auf die Ablehnung der EU-Verfassung in Frankreich. Abdüllatif Sener, stellvertretende Regierungschef, sagte in einer ersten Reaktion: „Vor uns liegt ein langer Verhandlungsprozess. Mal sehen, ob das Referendum in Frankreich zu den Dingen gehört, an die man sich später erinnern wird.“

Auf Debatten, den Beginn von Beitrittsverhandlungen eventuell zu verschieben, ging die türkische Regierung gestern nicht ein. Auch nicht auf den konservativen Vorschlag einer privilegierten Partnerschaft – trotz der Neuwahlen in Deutschland und des französischen Neins. Außenminister Gül betonte vielmehr, die Türkei sei von dem Referendum gar nicht betroffen. „Der Beginn von Beitrittsverhandlungen ist unabhängig von Regierungswechseln oder Volksabstimmungen. Das alles betrifft uns nicht“. Selbst Generalstabschef Hilmi Özkök beteuerte sein Vertrauen in die Verträge mit Brüssel und sagte: „Die Ablehnung in Frankreich ist ein großes Problem. Aber die EU hat die Kraft, diese Probleme zu überwinden“.

Das türkische Massenblatt Hürriyet titelte gestern zwar noch mit dem „Europaschock“, doch wie überall sonst in Europa war das Ergebnis in Frankreich ja keine wirkliche Überraschung mehr. Die politische Klasse des Landes ist überzeugt, dass der Prozess weitergeht. Das wichtigste Signal ist nach wie vor, dass die Verhandlungen im Oktober erst einmal beginnen.

Dabei vertraut Ankara mehr auf Aussagen von Wolfgang Schäuble und Angela Merkel, die ja beide gesagt hatten, auch eine CDU-Regierung werde die Verträge einhalten und die Verhandlungen beginnen und sich von Wahlkämpfern wie dem Bayern Glos oder dem Hessen Koch nicht irritieren lassen.

Das einzige rhetorische Zugeständnis Ankaras an das veränderte Klima in Frankreich und Deutschland ist, dass jetzt auch die türkische Regierung betont, man habe einen sehr langen Verhandlungsprozess vor sich. Allerdings könnten türkische Politiker künftig nicht nur mit der Stimmung innerhalb der EU, sondern auch mit der innerhalb des eigenen Landes zu kämpfen haben. Nach dem Motto „Warum sollen wir denen hinterherlaufen, wenn sie uns doch nicht haben wollen“, steigt in diesem Jahr erst mal signifikant die Zahl derjenigen, die einen Beitritt der Türkei zur EU ablehnen.

Meinungsumfragen kommen derzeit nur noch auf 65 Prozent Zustimmung zur EU gegenüber 75 Prozent im letzten Jahr. Der ultranationalistische Flügel in der Türkei hat seine Chancen längst erkannt. Nach den letzten Umfragen steigt der Stimmenanteil der MHP erheblich. Damit man aus der Krise richtig Kapital schlagen kann, meutert ein Teil der Partei gegen den noch relativ moderaten Vorsitzenden Devlet Bahceli und will ihn durch einen aggressiveren Führer ersetzen.

JÜRGEN GOTTSCHLICH