Motor stottert, Fahrt geht weiter

Nach dem Nein aus Frankreich ist das Meinungsbild in Brüssel diffus. Aber eins verbindet die meisten EU-Politiker: Sie hören, was sie hören wollen

AUS BRÜSSEL DANIELA WEINGÄRTNER

Für Ratspräsident Jean-Claude Juncker war der Sonntag ein schlechter Tag. Als dienstältester Minister und Regierungschef in der Runde verfolgt der Luxemburger die Höhen und Tiefen europäischen Miteinanders seit 20 Jahren. Dass die gern als Motor titulierten Gründungsstaaten Deutschland und Frankreich gleichzeitig jede Antriebskraft verlieren, hat er in all der Zeit allerdings noch nicht erlebt. Nun muss er das Halbjahr als Vorsitzender praktisch ohne ihre Unterstützung zu Ende bringen.

Trotz konservativen Parteibuchs gilt Juncker als einer, dem soziale Belange am Herzen liegen. Deshalb ist ihm schmerzlich bewusst, dass die neoliberale Kommission künftig gegenüber dem geschwächten Rat der Regierungschefs auftrumpfen und viel ungehinderter agieren kann. „Wir glauben weiterhin, dass eine gute und wirkungsvolle Antwort auf die beschleunigte Globalisierung nur auf europäischer Ebene gefunden werden kann“, sagte er am Wahlabend fast trotzig.

Der Ratifizierungsprozess werde fortgesetzt, das hatte Juncker in den vergangenen Wochen angesichts negativer Umfragen in Frankreich und den Niederlanden mehrfach betont. Auch die Sprecherin der EU-Kommission bestätigte diese Haltung gestern. Ob es rechtlich überhaupt zulässig sei, den Ratifizierungsprozess nach dem französischen Debakel abzubrechen, wie es Tony Blair erwägt, darüber wollte in der EU-Kommission gestern niemand spekulieren. Immerhin hätten bereits neun Mitgliedsstaaten, also 49 Prozent der Europäer, die Verfassung abgesegnet.

Den Einwand, eine Volksabstimmung sei demokratisch gewichtiger als die Ratifizierung durch Parlamente, will die Kommission nicht gelten lassen. Ein Abstimmungsverfahren wie in Deutschland, wo sich in Bundestag und Bundesrat eine überwältigende Mehrheit für die Verfassung ausgesprochen hat, bedeutet nach dieser Interpretation 80 Millionen Jastimmen für die Verfassung. Dass auch in Frankreich 90 Prozent der Parlamentarier die Verfassung unterstützen und damit offensichtlich nicht der Volkswillen zum Ausdruck kommt, quittierte die Sprecherin mit einem Achselzucken. Sie versicherte aber, man wolle künftig mehr Anstrengungen unternehmen, Europa besser zu erklären.

Die meisten Politiker schienen gestern in Brüssel nur zu hören, was sie hören wollten. Der konservative Europaabgeordnete Karl von Wogau erinnerte daran, dass die Erweiterung der Gemeinschaft gestoppt werden müsse, wenn nicht sichergestellt sei, dass die Union innerlich bereit sei, neue Mitglieder aufzunehmen. Auch der EVP-Fraktionschef Hans-Gerd Pöttering wertete das Ergebnis des französischen Referendums als Absage in Richtung Türkei.

„Frankreich kann nicht für ganz Europa entscheiden“, sagte der sozialistische Abgeordnete Richard Corbett und forderte ebenfalls, die Ratifizierung fortzusetzen. Der Sozialdemokrat Klaus Hänsch erinnerte daran, dass sich die Staats- und Regierungschefs darauf geeinigt hatten, die Abstimmungen in allen Staaten bis Ende 2006 über die Bühne zu bringen. Sollten bis dahin vier Fünftel, also 20 Staaten, mit Ja gestimmt haben, muss ein Sonderrat zusammentreten. „Bis dahin wird Frankreich sich auf seine besondere Verantwortung für die Zukunft der EU besinnen“, beschwor Hänsch.

Der liberale Europaabgeordnete Alexander Graf Lambsdorff forderte eine Sondersitzung des Europäischen Rates. Man könne mit dem Ratifizierungsprozess nicht einfach weitermachen, sonst fühlten sich die Bürger nicht ernst genommen. Einige konservative Abgeordnete teilen diese Sicht, während andere am beschlossenen Ablauf festhalten wollen. Der CSU-Mann Ingo Friedrich sagte, der Beitritt Rumäniens und Bulgariens gehöre auf den Prüfstand. Dagegen sieht er keine Probleme, das Amt des europäischen Außenministers „aufgrund der Möglichkeiten interinstitutioneller Übereinkommen auch ohne neue Verträge“ zu schaffen.

Das Meinungsbild in Brüssel ist also ähnlich diffus wie das im Lager der EU-Gegner in Frankreich. Sicher ist nur, dass die Verfassungskrise beim Gipfeltreffen am 16. und 17. Juni in Brüssel die Hauptrolle spielen wird. Damit geraten die Finanzverhandlungen ins Hintertreffen. Da sich schon jetzt abzeichnet, dass der Zeitplan nicht einzuhalten ist, werden viele mit EU-Geld geförderte Projekte in den neuen Mitgliedsländern und Ostdeutschland ab 2007 auf Eis liegen.

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