Ein Beben von ganz unten

Gewerkschafter, Kommunisten und Globalisierungskritiker feiern gemeinsam ihren Sieg über die EU-Verfassung. Linke geschlossen wie selten zuvor

„Dies ist der Anfang. Große Verantwortung kommt auf uns zu“

AUS PARIS DOROTHEA HAHN

An dem Votum gibt es nichts zu deuteln: 55 Prozent der Franzosen haben am Sonntag beim Referendum gegen die EU-Verfassung gestimmt. Bei einer Wahlbeteiligung, die mit 70 Prozent so hoch war wie selten. Es ist ein Beben, das von ganz unten kommt. Ein Großereignis der französischen Politik, das in dieser Wucht trotz Meinungsumfragen nur wenige erwartet haben. Kein Vergleich mit dem hauchdünnen Sieg des „oui“, bei dem letzten EU-Referendum über Maastricht vor 13 Jahren. Damals gaben ein paar hunderttausend Stimmen den Ausschlag – sowie den Anlass für jahrelange Spekulationen über angebliche Wahlmanipulationen.

Dieses Mal gewinnt das „oui“, für das vom Staatspräsidenten über die rechte Regierung, den Unternehmerverband, mehrere Gewerkschaften und Kirchen sowie die meisten großen Medien bis in die Reihen der sozialistischen Opposition fast alle führenden Köpfe Frankreichs Kampagne gemacht haben, nur in ganz wenigen Regionen des Landes. In dieser Ausnahmerolle finden sich das Elsass, die Hauptstadt Paris und die Bretagne. Überall sonst in Frankreich ist das „non“ die Mehrheit. Am stärksten ist es in den ländlichen Regionen, in den ehemaligen Industriegebieten, wo die Unternehmen zugemacht haben, im Süden und in den kleinen Städten. Die Frauen, die jungen Franzosen, die abhängig Beschäftigten – sie alle haben mehrheitlich mit „non“ gestimmt. Nur die leitenden Angestellten, die Besserverdienenden, die Großstädter und die über 60-Jährigen hingegen stimmten mehrheitlich mit „oui“. Das „non“ – auch das ein radikaler Unterschied zu dem Maastricht-Referendum – kommt dieses Mal mehrheitlich aus der Linken. Die neogaullistische Partei UMP, deren Wähler 1992 noch mehrheitlich gegen Maastricht stimmten, waren am Sonntag zu 80 Prozent für diese EU-Verfassung. Blieben die Anhänger der rechtsextremen „Front national“ und der nationalistischen „Bewegung für Frankreich“. Beide stimmten massiv dagegen. Doch das Gros der „Non“-Sager, um deren Stimmen die Befürworter der EU-Verfassung bis zum letzten Tag der Kampagne gekämpft haben, kommt aus der Linken. 58 Prozent der Wähler der PS stimmten mit „non“. 60 Prozent der Wähler der Grünen. Sowie fast hundert Prozent der KPF und der beiden trotzkistischen Parteien, LCR und LO.

Im Hauptquartier der KPF ist die Stimmung so ausgelassen wie seit Jahren nicht mehr. Nach jahrelangen Rückschritten ist es der einst größten Partei Frankreichs in diesem Referendum gelungen, im Zentrum der linken Kampagne zu stehen. Die KPF ist die einzige Partei im französischen Parlament, die ohne Spaltung in das Verfassungsreferendum ging. Seit ihre Führung in den 90er-Jahren von einem nationalistischen auf einen europäischen Kurs wechselte, hat sie in anderen Teilen der Linken an Glaubwürdigkeit hinzugewonnen. Bis zum letzten Tag klebten Kommunisten Plakate mit Verfassungszitaten an die Mauern Frankreichs. Während die Chefs der Wahlkampagnen der anderen parlamentarischen Parteien am Sonntagabend das Ergebnis mit versteinerten Gesichtern entgegennahmen, vielfach Verständnislosigkeit ausdrückten oder den Wählern eine „unglückliche Entscheidung“ vorwarfen, sagte KP-Chefin Marie-George Buffet strahlend: „Dies ist nur der Anfang. Jetzt kommt der Linken eine große Verantwortung zu.“

Wenig später versammelten sich ein paar tausend Linke aller möglichen Organisationen auf dem Place de la Bastille, um Erfolg zu feiern. Bei strömendem Regen erklärte dort unter anderem Ex-PS-Chef Henri Emmannuelli, die europäische Sozialdemokratie habe „einen historischen Fehler“ begangen, als sie die EU-Verfassung unterschrieb. Beim letzten Meeting seiner Kampagne hatte Emmanuelli am Freitagabend Linke aus allen möglichen europäischen Ländern um sich versammelt. Unter anderem trat bei dem Meeting, das schon die Konturen einer „antiliberalen europäischen Linken“ entwarf, auch Ex-SPDler Oskar Lafontaine auf. In ausgezeichnetem Französisch forderte er sein vor Begeisterung tobendes Publikum auf: „Bitte wählt non.“

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