Die Einserschülerin

DAS SCHLAGLOCH von KERSTIN DECKER

Über Merkel wissen wir nicht viel, weil sie immer so tut, als stamme sie direkt von Konrad Adenauer ab

Ich bin nicht frauenfeindlich. Aber bei der Lektüre des neuen Politbarometers dachte ich: Weiber! Schon jetzt möchte die Mehrheit der Deutschen Angela Merkel als Kanzlerin. Und die Mehrheit der Deutschen, das ist eben vor allem: die Mehrheit der deutschen Frauen. 50 Prozent für Merkel, nur 43 Prozent für Schröder. Und nur, weil sie eine Frau ist. Dazu ist sie auch noch aus dem Osten. Vor zwei Wochen wusste noch kein Mensch etwas von Neuwahlen, und schon ein paar Tage später tun alle so, als hätten wir bereits Angela Merkel aus Templin. Für die, die sich in Italien oder Portugal viel besser auskennen als im deutschen Osten: Wenn man aus Berlin rausfährt Richtung Norden, hat man irgendwann das deutliche Gefühl, da kommt nichts mehr.

Die Orte fangen an, Namen wie „Hammelsprung“ zu tragen, was man durchaus als Hinweis darauf nehmen kann, wer hier das Sagen hat. Menschen fallen zahlenmäßig kaum noch ins Gewicht, und wenn man dann wirklich die Gewissheit hat, hier kommt nichts mehr, dann kommt Templin. Templin, die Metropole der Uckermark. Angela Merkel wohnte aber nicht direkt im brodelnden Templin, sondern etwas abseits, im Waldhof. Und ging auf die Waldschule. Die Frau, die aus dem Wald kam. Eigentlich eine originelle Herkunft für eine Bundeskanzlerin. Bundeskanzlerin. Doch, es geht. Man kann dieses Wort aussprechen, man wird sich nicht einmal lang daran gewöhnen müssen. Aber auch an sie? Wenn Angela Merkel Bundeskanzlerin wird, wandere ich aus!, hat die Bekannte eines Bekannten in der vergangenen Woche gesagt.

Man muss im Augenblick sehr weit laufen, um Ignoranten des Papsttums zu treffen. Oder Merkel-Feinde. Ja, was stört denn eigentlich an dieser Frau? Vielleicht sollte man vor dem Auswandern erst noch einmal in Ruhe über sie nachdenken. Dass sie nicht schön ist, ist in Ordnung. Keine Frau hat die Verpflichtung, schön zu sein. Aber sie sieht irgendwie so, so, so … ostig aus. Ja, ostig. Indem ich das denke, weiß ich zum ersten Mal, was das ist: bieder. Ostig ist bieder; nur habe ich bis eben nicht geglaubt, dass der ganz normale Ostler wie du und ich ostig ist.

Man muss noch einmal ganz neu über die Weisheit der Vorurteile nachdenken. Diese Gesellschaft hat ja ein enormes Vorurteil gegenüber den Vorurteilen. Zum Beispiel ist Petra Pau von der PDS die zeitlose Inkarnation des Typus DDR-Pionierleiterin. Dabei ist sie nicht einmal unsympathisch, wenn man sie reden hört, sodass wir nachträglich ahnen: Es könnte in der DDR sympathische Pionierleiterinnen gegeben haben. 1990 hatte Angela Merkel noch genauso kurze Haare wie Petra Pau, trotzdem sah sie nie wie eine Pionierleiterin aus, sondern eher wie eine FDJ-Funktionärin. Der Typus Einserschülerin, der niemanden abschreiben lässt. Die aus der Klasse, auf die sich der Lehrer immer verlassen kann. Zu ihr fallen einem lauter Adjektive ein, für die unsere Alltagssprache schon fast keine Verwendung mehr hat: brav, artig, anständig. Lauter allerseltsamste, gruselige Untugenden. Und wenn man jetzt erfährt, dass Angela Merkel immerzu Mathematik- und Russisch-Olympiaden gewonnen hat, ist es, als hätte man das schon immer gewusst.

Über Angela Merkel wissen wir nicht viel, zum einen weil sie immer so tut, als stamme sie direkt von Konrad Adenauer und Ludwig Erhard ab, obwohl die garantiert nicht wussten, wo Templin liegt. Andererseits weiß man fast gar nichts von ihr, eben weil sie aus der uckermärkischen Metropole kommt. Der Stern hat gerade über Angela Merkel nachgedacht und die Uckermark sehr schön beschrieben. Es ist eine Landschaft, „die leise, gemächliche Menschen entlässt, die gegenüber Fremden übersichtliche Sätze bilden. Ja. Punkt. Nein. Punkt.“ Die Welt ist laut genug, besser, man spricht nicht viel. Und schon gar nicht über sich. Und erst recht nicht zu Fremden. Der Nordmensch ist kein revolutionäres Temperament. Er ist strukturell kein Neinsager. Und wenn er doch nein sagt, muss das ja keiner hören. Angela Merkel war auch keine Neinsagerin. Im Gegenteil, ihr IM vermerkte immer wieder Angelas „positive politische Grundeinstellung“. Nur als die Russen damals dieses voll besetzte südkoreanische Passagierflugzeug über Sachalin abschossen, fand sie das nun wirklich übertrieben. Aber auch dann bescheinigt der IM Angela Wille und Fähigkeit zur Einsicht.

Mit Angela Merkel wird der Durchschnittsbürger Ost Bundeskanzler. Ist das nicht wunderbar? Die Geschichte hat Sinn für Pointen. Als im Herbst 1989 fast das ganze Land auf der Straße war, soll die Physikerin Merkel ruhig in ihrem Zimmer in der Akademie der Wissenschaften sitzen geblieben sein und weitergerechnet haben. Mal sehen, was daraus wird. Ein kühler, norddeutscher, wissenschaftlicher Kopf lässt sich nicht so leicht verwickeln. Als die Mauer aufging, kam sie gerade aus der Sauna. Vielleicht ist das die kongeniale Art, welthistorischen Ereignissen zu begegnen. Schon dafür muss man sie eigentlich mögen. Und dass sie so schrecklich durchschnittlich war in der DDR, hat fünfzehn Jahre lang eigentlich nur ihre eigene Partei und die Radikal-Widerständler gestört. Aber nicht an ihr, nur an den anderen fast 17 Millionen. Und Angela Merkel hat auch noch nie etwas dazu gesagt; dafür ist sie eine scharfe Geißlerin der DDR-Diktatur.

Merkel wohnte nicht direkt im brodelnden Templin, sondern im Waldhof. Die Frau, die aus dem Wald kam

Es gibt zwei Angela Merkels: die von früher und die von heute. Aber es gibt keine Verbindung zwischen beiden. Vielleicht hat man deshalb den Eindruck, dass sie keinen Satz sagt, der von ihr ist. Aristoteles hätte das nicht gewundert, er war überzeugt davon, dass Frauen keine Eigensätze bilden können. Frauen, wusste er, sind ein abgeleitetes Geschlecht. Ein rein reproduktives Geschlecht. Aber Aristoteles kannte Angela Merkels Promotionsthema nicht: „Untersuchung des Mechanismus von Zerfallsreaktionen mit einfachem Bindungsbruch und Berechnung ihrer Geschwindigkeitskonstanten auf der Grundlage quantenchemischer und statistischer Methoden“. Das Thema schafft nicht jeder. Angela Merkel hätte den Griechen glatt an die Wand gerechnet. Außerdem darf kein Politiker nur Eigensätze sagen, sonst hat er seinen Beruf verfehlt. Trotzdem schien es bei den Politikern älteren Typs immer, als wären sie doch mehr als eine Funktion der Macht. Mehr als bloße Rechner. Noch bei Schröder ist das so. Wie sie damals lachend bei Bush auf dem Sofa saß und um Entschuldigung bat, dass Deutschland nicht mitkommen wollte in den Irak. Mit ihr wäre das nicht passiert. Merkel, die Klassenbeste, die nicht nein sagen kann. Die Machtresultante. Denken und Rechnen sind eben nicht dasselbe.

Immerhin, sie kann lächeln. Das Lächeln heute ist ein allgegenwärtiges Einheitskonfektionslächeln von allen Plakaten, allen Illustrierten. Es ist trivial. Angela Merkels Lächeln ist nicht trivial. Es ist ein Junges-Mädchen-Lächeln, beinahe rührend, so unkontrolliert offen. Weshalb sie ihr Lächeln auch sehr streng bewacht. Und wie die meisten Ostmädchen gab sie einfach so ihren Namen weg, schließlich wusste man, wer man ist, egal unter welchem Namen. Und ließ sich dann schnell scheiden, als sie merkte, dass der Mann, der Merkel hieß, nicht zu ihr passte. Ein bisschen komisch ist es schon, dass Herr Merkel nun nicht dabei ist, wenn sein Name bald Bundeskanzlerin wird.