kritisch gesehen: Gefühlskaltes Landleben
Ulrike Kleinerts „Eisblumenzimmer“ spielt in der frostigen Wesermarsch
Von Benno Schirrmeister
Manchmal drohen die Mängel eines Buchs seine Vorzüge zu überdecken: „Das Eisblumenzimmer“ von Ulrike Kleinert ist ein lesenswertes, aber kein gelungenes Buch. So gibt es in dieser Familiengeschichte aus der Wesermarsch viele Szenen, die sich im Grunde wiederholen, ohne zum Motiv zu werden. Sprachlich nervt ein ungelenker, aber ausgedehnter Gebrauch wörtlicher Rede, die stets grammatikalisch wohlgeformt so klingt, wie die Sätze der Erzählerinnenstimme. Und, das ist ein kompositorisches Manko, das Eisblumenzimmer wird mehr erwähnt, als wirklich geschildert. Wie soll das Wort da sein großes, metaphorisches Potenzial entfalten, das so gut passt?
Denn ein Eisblumenzimmer ist nicht nur ein Raum der Kindheit auf dem Lande. Das ganze Familiengefüge, das sie umschließt, erweist sich als geprägt durch eine Gefühlskälte nahe der Grausamkeit: In sie lesend einzutauchen verhilft zu einer frostigen, aber eben auch eigentümlich anrührenden Erfahrung.
Das ist eine besondere literarische Qualität, wenn auch keine, die Lesevergnügen bereiten würde: „Die Hände ihrer Familie“, reflektiert die Ich-Erzählerin an einer Stelle, „waren nicht gewöhnt, zärtlich zu berühren. Die Hände fassten das Gemüse an, das geerntet und verarbeitet werden musste, das Futter für die Tiere, die Zitzen der Kühe, wenn sie gemolken wurden.“ Ähnlich ruppig zupackend wirkt auch Kleinerts Poetik.
Geprägt ist die Wesermarsch zwischen Bremen und Nordenham durch Grünland. Das spezifische Bild dieser Gegend, die unsichtbare, aber deshalb noch lange nicht überwindbare Grenzen gliedern, erfasst Kleinerts Hauptfigur Sara in Erinnerungen an die Streifzüge als junges Mädchen: „Die Grundstücke hatten keine Zäune. Kleine Gräben markierten die Grundstückgrenzen“, heißt es an einer Stelle. „Sara wäre nie auf die Idee gekommen, einfach darüber zu springen, obwohl sie schmal waren“.
Sara ist die sympathischste der wenig einnehmenden Figuren des Buchs. Auch ihr folgt man ohne Zuneigung durch die rurale Tristesse. Erzählerische Spannung erzeugt indes der wohtuend nostalgiefreie Blick auf Vergangenheit. Beklemmend wird er, wo er auf die stoische Beteiligung ländlicher Gesellschaft an NS-Verbrechen fällt, die als normal hingenommen wird. Und sich, wie alles Normale, der Erinnerung entzieht: Kleinert schildert diese Mechanik des Verdrängens mit großer Präzision. Benno Schirrmeister
Buch „Das Eisblumenzimmer“, Ulrike Kleinert, Bremen, Kellner-Verlag, 172 S.
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