: Von Schwärmen schwärmen
TANZ Harmonie und Übereinstimmung mit der Musik prägen Thomas Hauerts „Accords“ beim Tanz im August in der Akademie der Künste
Es muss am Raum und an den Kostümen liegen, die mit ihren Ganzkörperhüllen aus Gaze die Konturen glätten, dass die Gedanken mitten in dieser Produktion von Thomas Hauerts Compagnie Zoo zu einem Gastspiel von Merce Cunningham (vor womöglich mehr als zwanzig Jahren) abschweifen. Der amerikanische Choreograf, der vor wenigen Wochen mit neunzig Jahren gestorben ist, tanzte, da schon über siebzig, selbst mit in der Akademie der Künste. Sich rückwärts laufend den Raum im Rücken der Tänzer zu erschließen brachte eine von vielen neuen Perspektiven in die Choreografie. Ebenso wie die Entdeckung der vielen Punkte im Körper, um die herum eine Drehung stattfinden kann.
Beides spielt bei dem Schweizer Choreografen Thomas Hauert und seiner siebenköpfigen Gruppe eine Rolle, ebenso wie die in den Achtzigerjahren als Offenbarung entdeckte Technik der Contact Improvisation, die das Erfinden von Bewegung ganz der Aufmerksamkeit und Sensibilität der Tänzer überstellte. Was aber bei Hauert doch sehr anders ist, als es bei damaligen Tanzpionieren war, ist das Bedürfnis nach Harmonie und Übereinstimmung mit der Musik. Und so taucht jenes Vokabular, das gewonnen wurde, um sich vom illustrativen Verhältnis zwischen Musik und Tanz zu emanzipieren und ihrem Rhythmus den der Körperzeit entgegenzusetzen, nun auf, um ihr mit Hingabe nachzuspüren und sich von ihr ziehen zu lassen.
Floskeln abstreifen
Das ist so ungewöhnlich geworden, dass es einem eigentlich nur noch bei Kindertanzgruppen begegnet. Hauerts Stück „Accords“, das im Rahmen des Festivals „Tanz im August“ nach Berlin gekommen ist, erinnert daran. Zumal die Musik, die Hauert für die Improvisationen seiner Tänzer ausgewählt hat, anmutet wie ein Potpourri von Lieblingsmelodien aus dem Repertoire des klassischen Ballettunterrichts, mit einem Walzer von Ravel, Klaviermusik von Satie, einem Marsch und einem Flamenco. Gerade bei letzterem Musikstück erweist sich auch, wie weit die Tänzer herkömmliche Bewegungsfloskeln abgestreift haben und nichts von den Stereotypen reproduzieren, die von den Klängen aufgerufen werden. Wo der Flamenco sonst die senkrechte Achse des Körpers und ein Stakkato der Füße betont, wird er hier mit weiten Kurven im Raum und Kreisen, die Hände in die Luft zeichnen, auf anderen Ebenen gespiegelt.
Diesem ausgreifenden Kreisen voraus ging eine Sequenz, die mit den quietschenden Geräuschen schlecht geölter Maschinen operierte, denen die Körper mit klein gehackten Gesten antworteten, ein Kopfdrehen und ein Armheben, wie von Zahnrädern getrieben. Später folgt ein Gruppenbild, bei dem die Tänzer wie ein vielgliedriger Körper agieren und nie die Tuchfühlung verlieren; dann eine Szene, bei der zwei auf dem Rücken liegende Tänzerinnen ihre Füße und Hände ins Licht steigen und wieder sinken lassen und sie zu Vogelgezwitscher um die Gelenke wenden, drehen und kippen, bis man in ihren Fingern und Zehen sehr eigenwillige Organismen zu sehen glaubt.
Ausdehnen des Kollektivs
Der letzte Tanz ist ein Walzer, zu dem sie sich wie ein Schwarm organisieren, in dem die Rolle der Führung dauernd wechselt. Die Bewegungen der Einzelnen sind nicht synchron und fügen sich doch in das Ausdehnen und Zusammenziehen des Kollektivs, das sich hier als Multitude feiert.
Das Ensemble Zoo, von Thomas Hauert vor elf Jahren gegründet, ist in Solothurn und in Brüssel beheimatet. In Berlin sieht man sie zum ersten Mal, denn tatsächlich liegt ihre fast ein wenig naiv erscheinende Freude am Tanz recht weit entfernt von den Konzepten, die von den langjährigen Kuratoren Ulrike Becker und André Theriault für „Tanz im August“ ausgesucht werden. Doch zu dem diesjährigen Motto „Listen“ tragen sie eine ganz eigene Farbe bei, eine reiche Vielfalt an Transformationen von Melodie und Dynamik der Musik. Wenn nur noch deren Zusammenstellung etwas mehr einleuchten würde und etwas weniger nach dem Beweis der Möglichkeit aussähe, dass man wirklich zu allem anders als vorhersehbar tanzen kann. Dann könnte man auch den leisen Vorwurf des Eklektizistischen herunterschlucken.
KATRIN BETTINA MÜLLER
■ Mehr zum Programm: www.tanzimaugust.de
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen