Seid umschlungen, Senioren

WENDEPUNKTE Das „Neue Deutschland“ hat das Ende der DDR überlebt, eine ganze Partei um sich herum – und muss doch um jeden Abonnenten bangen. Denn das Verbreitungsgebiet kommt über den Osten nicht hinaus

Das „ND“ sackte von 1 Million Exemplare auf 41.000 Stück. Nun schlägt das Blatt Alarm

AUS BERLIN DANIEL BOUHS

Bald werden sich Menschen erzählen, wie es war, als sie Briefe noch mit einer Marke versehen und von Boten haben ausgetragen lassen. Später werden sie sich auch noch daran erinnern, wie Zeitungen ihre Finger schwärzten und wie mühsam das Umblättern mitunter war. Vom Neuen Deutschland aber dürften dann eher Historiker schwärmen. Wenn überhaupt.

Die Zeitung, die 43 Jahre lang das Zentralorgan eines Staates war, der sich auf Armee und Spitzeldienste stützte, stirbt aus – zusammen mit den Anhängern des einstigen Systems. Die Zahlen sprechen für sich: Die SED-Nachfolgepartei PDS, die zwischenzeitlich in der Linken aufging, verlor seit dem Ende des Experiments „Sozialismus“ vier von fünf Mitgliedern. Das ND sackte sogar von 1 Million Exemplare auf 41.000 Stück. Seit einer Woche schlägt das Blatt Alarm: Erstmals seit Gründung fordern Chefredaktion und Geschäftsführung ihre Leser auf, das Blatt zu stützen.

Betriebsrat Christoph Nitz, eigentlich Redakteur, hält den Ball lieber flach. Zu neuerlichen Schlagzeilen wie „ND vor dem Ende“ sagt er: „Wir haben ein Liquiditäts- und kein Bilanzproblem.“ Es mangele lediglich an Rücklagen, um kurzfristige Defizite überbrücken zu können. Das Jahr 2008 brachte dem ND-Verlag ein Minus von 400.000 Euro. Die ersten Monate dieses Jahres sahen angeblich schon wieder besser aus.

Nitz sagt, die Lage habe sich inzwischen sogar so weit entspannt, dass vorerst weder Personal abgebaut noch das 13. und 14. Monatsgehalt für Redakteure angetastet werde.

Außerdem bekämen freie Mitarbeiter künftig wieder das normale Zeilengeld, das in einer ersten Panikaktion noch für ein halbes Jahr gekürzt wurde. Jetzt wollen sie sparen, indem sie die bisher unterschiedlichen Andruckzeiten zusammenlegen.

Die Sache ist aber auch die: Wie bei der taz zahlt auch das ND weder Tarif noch Zeilensätze, die sich auf dem Niveau anderer überregionaler Titel bewegen. Redakteure verdienen nicht einmal 60 Prozent des Tarifs, und Freie werden mit 39 Cent pro Zeile entschädigt. Auch das ND lebt zu einem großen Teil vom Idealismus seiner Mitarbeiter.

Das ND, das sich „sozialistische Tageszeitung“ nennt, klebt noch immer an der Partei, heute eben an der Linken. Die Wochenendausgabe begleitet den „Politpopstar“ Oskar Lafontaine und lässt auf Seite eins den Parteigeschäftsführer Dietmar Bartsch für einen „nachhaltigen Politikwechsel“ werben. Auf der Meinungsseite findet Bundestagsfraktionschef Gregor Gysi statt, der Parteivorsitzende Lothar Bisky ist Herausgeber des ND. Chefredakteur Jürgen Reents ist seit 1999 auf seinem Posten.

Er kennt die Probleme, etwa das Durchschnittsalter seiner Leser, das bei „Mitte 60“ liege. Und er weiß: „Unser Verbreitungsgebiet ist und bleibt der Osten“, eine Region, aus der noch immer der Nachwuchs flüchtet. Reents sagt, er sei gar nicht unglücklich, vor allem für Senioren zu schreiben. „Die Gesellschaft altert, die lesende Bevölkerung sowieso.“

Für den Betriebsrat macht Reents offensichtlich zu wenig. Nitz fordert offensiv eine „regelmäßige Verbesserung“ des inhaltlichen Angebots. Er bitte „besonders die Chefredaktion, das Profil der Zeitung kontinuierlich zu schärfen“. Reents sagt wiederum, ihm seien quasi die Hände gebunden, wenn er dafür bloß 50 Redakteure habe. „Das ist absolute Untergrenze.“

Geschäftsführer Olaf Koppe teilte seinen Lesern gerade ein leichtes Aboplus mit. Eine Zuschrift für die Aktion „Stimmabgabe für den linken Journalismus“ rührte ihn besonders. Koppe meint damit bezeichnenderweise einen Herrn, der das ND seit Gründung lese und „alle Linken und Sympathisanten“ aufrief, das Blatt zu abonnieren. Der Mann steht für die Zeitung: Die erste Ausgabe erschien im Jahr 1946.

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