Dokumente der Hoffnungen

EINST UND JETZT Die Ausstellung „Baumeister der Revolution“ im Martin-Gropius-Bau zur sowjetischen Avantgarde-Architektur

In der Ausstellung berührt die Entfesselung der Einbildungskraft der Künstler

VON RONALD BERG

Gleich hinter dem Eingang zur Ausstellung empfängt den Besucher das Modell eines der bekanntesten Bauwerke der russischen Avantgarde: Wladimir Tatlins Denkmal für die Dritte Internationale. Der spiralförmige Turm sollte sich ursprünglich bis in 400 Meter Höhe emporschrauben. Das Projekt blieb aus Kostengründen unrealisiert und lebte nur als Symbol fort.

Fotografieren konnte Richard Pare diese Revolutionsikone also nicht. Pare, 1948 im englischen Portsmouth geboren, Fotograf und Mitbegründer der Fotosammlung des Canadian Centre for Architecture, ist der eigentliche Initiator dieser Ausstellung zur sowjetischen Avantgardearchitektur. Sein Faible für das modernistische Bauen führte ihn 1993 dazu, das noch existierende architektonische Erbe der Revolution in der ehemaligen UdSSR mit der Kamera zu dokumentieren. Pares Projekt ist ein work in progress. Noch immer gäbe es viel zu entdecken, meint Pare.

Das kann man im Martin-Gropius-Bau tatsächlich. Zumal Pares anschauliche Farbaufnahmen begleitet werden von historischen Fotografien aus dem Staatlichen Wissenschaftlichen Forschungsmuseum für Architektur in Moskau. Man kann also vergleichen: einst und jetzt. Da wäre zum Beispiel Wladimir Schuchows Moskauer Funkturm von 1922, im Grunde das realisierte Pendant zu Tatlins Denkmal. Der 150 Meter hohe Schlauch aus Gitterstahl erscheint auf den historischen Fotos als eine alles überragende Landmarke innerhalb der niedrigen Wohnhäuser ringsum. Obwohl eine technische Anlage, ist der Turm zugleich Ausweis neuer Gesinnung und Erfindungsgeistes, der traditionelle Ideen von Architektur negiert. Auch auf Pares Bildern ragt der Turm noch immer erratisch aus dem Stadtbild heraus.

„Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes.“ Gemäß der Parole Lenins markieren die Jahre ab 1922 in der Sowjetunion einen Aufbruch, bei dem buchstäblich viel neu aufgebaut werden musste. Pares Aufnahmen zeigen die architektonischen Ergebnisse in Kapiteln wie Nachrichtenwesen, Bildung, Gesundheit, Freizeit und Lenin-Mausoleum. Auch Industrieanlagen sind bei Pare dabei, etwa der Staudamm von Dnjeproges 1927–32.

Historische Aufnahmen zeigen die Turbinenhalle noch mit horizontalem Fensterband in modernistischer Form. Pares Bild von 1999 gibt die Verkleidung aus späterer Zeit mit Granitquadern, Kranzgesims und Achteckfenstern wieder. Die revolutionäre Moderne dauerte nur bis in die Mitte der dreißiger Jahre. Dann wurde sie durch Stalin abgewürgt.

Die Architektur teilte dieses Schicksal mit der Kunst. Die konstruktivistische Kunst lieferte gleichsam Grundlagenforschung in Sachen Form, Farbe, Raum und Volumen. Ihre kubischen und geometrischen Formen stellten ein Vokabular, das leicht auch in der Architektur Eingang finden konnte. Diese Beziehung lässt sich am Bildern und Zeichnungen aus der Sammlung Costakis aus Thessaloniki, dem dritten Strang dieser Ausstellung, nachverfolgen. Dabei wären die Kunstwerke für sich genommen auch schon einen Besuch wert.

Überhaupt berührt in dieser Ausstellung einmal mehr die ungeheuere Entfesselung der Einbildungskraft der Künstler und Architekten bei ihrem Aufbruch in eine vermeintlich bessere Zeit. Zugleich liefern Pares Fotos einen wehmütigen Kontrapunkt. Denn die vielen großartigen Bauten aus der postrevolutionären Epoche sind heute in der Regel in einem erbärmlichen Zustand. Dazu zählt Moisej Ginsburgs Narkomfin Wohnanlage in Moskau von 1930, die Le Corbusiers Wohnmaschinen à la Unité d’Habitation um anderthalb Jahrzehnte vorwegnahm. Die Anlage ist heute verbaut und entstellt, zerbröckelt und wird innen – wie ein Pare-Foto beweist – nach traditionellem Muster bewohnt. Dennoch – oder vielleicht deshalb – erschauert man bei diesem Gebäude, das nicht nur formal und ästhetisch eines der großen Meisterwerke der Moderne im 20. Jahrhundert darstellt, sondern auch Ausweis großer Hoffnungen ist. Das tragische Scheitern der revolutionären Ideale hat aus diesem Bau eine halb unfertige, halb pflanzenbewachsene Ruine werden lassen, die in ihrer entstellten Schönheit Wehmut erzeugt. Pares Fotografien helfen hoffentlich dem Bewusstsein, die bauliche Avantgarde der Sowjetunion wenigstens als Denkmale zu sichern.

■ Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstr. 7, Mi.–Mo 10–19 Uhr, Di. geschlossen. Bis 9. Juli. Katalog 25 Euro (Museumsausgabe) bzw. 39,90 Euro