Der Zorn der Schwäne

Mondän ist er und grausam. Und wie verhält sich der Schwan, wenn ein Kumpel gegessen wird? Er umzingelt. Eine Begegnung am Kanalufer

Ich sitze am Kanalufer im Gras und esse zwei gebratene Hähnchenkeulen. Ein Schwan schwimmt langsam auf mich zu, zunächst denke ich mir nichts dabei. Dann kommen noch drei und noch zwei und noch einer. Wer mitgezählt hat, weiß jetzt, dass die Zahl der Schwäne zunimmt. Der erste springt ans Ufer. Wie zufällig lässt er mal hier, mal dort eine Feder fallen. Dabei weiß ich genau, dass er mich aus dem Augenwinkel fixiert. In seinem Blick spiegelt sich eine mondäne Grausamkeit wider, wie man sie im Grunde nur von Schwänen kennt.

Der Schwan gilt nicht umsonst als Wasservogt des Kanals. Er belästigt Paddler mit seinem heiseren Gesang, verschmutzt die Ufer mit Kot und Federn, Bierdosen und Grillabfällen und schändet junge Enten ganz nach Lust und Laune. Doch dieser Schwan wirkt obendrein vorwurfsvoll, traurig, wie paralysiert. Seine Federn bilden im Gras einen Pfeil, dessen Spitze direkt auf mich weist – anklagend und bedrohlich. Das kann kein Zufall sein! Zwei weitere Schwäne hüpfen ans Ufer, bald bin ich umzingelt, jetzt geht mir ein Licht auf.

Hastig schiebe ich den angenagten Knochen zurück in die Tüte. Ertappt. Wie sieht das denn aus? Für die Schwäne ist der Fall bestimmt klar: Ich habe einen Kumpel von ihnen gegessen. Andererseits: Ist das Hähnchen überhaupt ein Kumpel vom Schwan? Was maße ich mir an – vielleicht liegt gerade in diesen dumpfen Ressentiments der Schlüssel für den Zorn der Schwäne? Ich mache mir das schön einfach. Leider, wie so oft – da könnte ich ruhig mal drüber nachdenken. Es ist dies die Stunde des Schwans, die der schonungslos weißen Wahrheit – kurz vor vierzig wird es ohnehin Zeit fürs letzte Zwischenzeugnis: Charakter mit Not ausreichend; Ernsthaftigkeit mangelhaft; Einstellung ungenügend. Zuallererst müsste ich mir die Frage stellen: Wie halten die Vögel das – ist der Spatz ein Kumpel vom Strauß, die Amsel einer vom Geier, der Storch einer vom Pinguin? Als Mensch weiß ich doch viel zu wenig darüber und stehe naturgemäß wie ein Trottel außen vor.

Die Kumpeltheorie liegt nahe: Die Schwäne gucken wiederholt dahin, wo die Hähnchenknochen verschwunden sind. Auch glaube ich, leises Kopfschütteln zu bemerken. Einer klappert gefährlich mit dem Schnabel. Beraten sie sich, oder heißt das „Auf ihn mit Gebrüll“? Mir schwant nichts Gutes: Die sollen ja in der Lage sein, einen Hund umzubringen. Bin ich ein Hund? Für die schon. Ich könnte behaupten, ich hätte das Huhn beim Chatten kennen gelernt und es wäre mit allem einverstanden gewesen. Aber wie mich verständlich machen?

Sprachprobleme sind das Grundübel mangelnder Integration. Ich bin in die Tierwelt null integriert, ich esse sie nur. Zu behaupten, dass ich sie auf diese Weise in mich integriere – das wäre blanker Zynismus. So sehen das auch die Enten, die in sicherem Abstand hinter den Schwänen vorbeischwimmen. Die sensiblen Federtiere werfen flüchtige Blicke in meine Richtung. Ich wische mir kaltes Fett vom Mund. Die eine Ente zittert, die andere weint. Das habe ich nicht gewollt! ULI HANNEMANN