die taz vor 14 jahren
: überwältigendes vorbild brd

Das aus den Trümmern der DDR wiederauferstandene Land Brandenburg schickt sich an, zum Avantgardisten demokratischer Umgestaltung unter den fünf neuen Ländern zu werden. Den Abgeordneten des Landtags liegt der Entwurf einer Verfassung vor, die für sich in Anspruch nimmt, an die demokratischen Traditionen der totgeborenen Runden-Tisch-Verfassung der DDR von 1990 ebenso anzuknüpfen wie an avancierte Inhalte der neuen Verfassung Schleswig-Holsteins. Im Kern geht es um den verfassungsmäßigen Rang unabhängiger Bürgerbewegungen und -initiativen und um eine Konzeption der Grundrechte, die die Kluft zwischen Anspruch und Verfassungswirklichkeit zu vermindern sucht.

Nachdem die Verfassungsdebatte Anfang 1990 in der Noch-DDR für kurze Zeit aufgeblüht war und auch in den entstehenden Bundesländern wie Sachsen und Thüringen erste Verfassungsentwürfe und Gegenentwürfe entstanden waren, ist es jetzt still geworden um die verschiedenen Gründerväter und -mütter. Gibt es tatsächlich einen „Beruf der Zeit“ zur Verfassungsgesetzgebung? 1990 hatten Juristen wie Ulli Preuß emphatisch eine deutsche Verfassungsdiskussion gefordert, ja von ihr das demokratische Gelingen des Einheitsprozesses abhängig gemacht. In der Arbeit des Kuratoriums für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder fand dieses Engagement seinen politischen Ausdruck. Die heute geringe Popularität solcher Anstrengungen könnte man ebenso aufs Konto des täglichen Überlebenskampfs in der Ex-DDR buchen wie auf das überwältigende Vorbild der BRD-Verhältnisse in allem und jedem.

(Christian Semler, 3. 6. 1991)