berliner szenen: Balletttanzen für jedermann
Vierzig ängstliche Erwachsene umklammern mit schwitzigen Händen die Ballettstange. Hier stehen allerlei Altersgruppen und Geschlechter. Eines haben sie jedoch gemeinsam. Seien es die schmutzigen weißen Socken, die fußverkleinernden Ballettschuhe oder die mädchenhaften Chiffon-Röcke und unvorteilhaften Pastellfarben: Hier lassen sich alle in eine ihres Alters unwürdige Position zurücksetzen. Und sie geben sogar ihre kostbaren Sonntagvormittage dafür auf, dass ein 54-jähriger australischer Ballettlehrer (wir wissen alle um seinen Alter, weil er heute Geburtstag hat und es für jeden einen Cupcake gibt) durch die Gegend pirouettiert, sich über alle lustig macht und dann sofort wieder aufputscht. Peinlich? Oder sind wir mutig?
Es ist paradox, die Klamotten und die Bewegungen könnten von außen lächerlich erscheinen. Das Gefühl allerdings, das man beim Balletttanzen bekommt, ist eins der Würde. Das Klavier klingt aus, mit gerader Haltung und stillem Blick beenden wir die Sequenz.
Ich begreife das Phänomen nicht. Umso weniger, als der Lehrer auf einmal von einer wirren Frau in der U-Bahn erzählt. Sie wollte ihm wohl eine Lehre aus der Bibel predigen, oder ihn anbetteln, er war sich nicht ganz sicher, denn sie hätte sehr genuschelt. Warum erzählt er uns das? Er scheint es auch kurz vergessen zu haben. Ah ja – die Bewegung, die sie dabei gemacht habe! Als würde sie tänzerisch etwas auftischen. Er fand die Bewegung prima. Umso absurder in Anbetracht der Tatsache, dass Ballett in den Etiketten der Renaissance-Ära italienischer Königshöfe verwurzelt ist. Wie findet es denn eigentlich der Lehrer, ein ehemaliger Operntänzer, diesen unbeholfenen Erwachsenen Ronde du Jamb und Grand Battement beizubringen? Ist es Hochkultur für alle oder Klassendemütigung?
Nina Kashi Street
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen