Fidels heiße Ecke

Auf Kuba ersetzten schon im 19. Jahrhundert mechanisch betriebene Musiktruhen ganze Orchester. In Niquero tanzt man heute noch zum Sound der alten Lochstreifenorgeln

VON CHRISTOPH TWICKEL (TEXT UND FOTOS)

Die alte Raffinerie arbeitet auf Hochtouren. In Niquero hat die „Zafra“ begonnen, die Zuckerrohrernte. Seit Wochen regnet es verkohlte Zuckerrohrspäne vom Himmel. Schon lange ist das Zuckerrohr ein Verlustgeschäft für Kuba. Aber es ist eine Beschäftigungsmaßnahme, die den Laden zusammenhält. Auch in Niquero: Das Zwanzigtausend-Seelen-Nest im Osten Kubas ist um die Zuckerrohrraffinerie herumgebaut. Die Schlote des veralteten Monstrums ragen aus der Ortsmitte heraus.

Wenn am Nachmittag gegen 16 Uhr die Sirene zum Schichtwechsel tutet, sitzen die Männer schon in den Bars und löten sich mit billigem Rum zu. Ab und an verliert sich ein Touristenbus zum Lunch in das einzige Hotel, auf dem Weg zur Revolutionsgedenkstätte für die „Granma“ – das Boot, mit dem Fidel Castro und Genossen 1956 nach Kuba kamen. Doch wenn sich abends die Holztür des Oriente, des Ecklokals gegenüber dem Hotel, öffnet und die Männer einen großen Holzkasten auf den Bürgersteig schieben, sind die Touristen längst wieder in den Hotelburgen. Wie sollten sie auch ahnen, dass sich in einer halben Stunde die Kreuzung in die „heiße Ecke“ verwandelt haben wird?

Der große Holzkasten ist eine Drehorgel, eine Órgano Oriental. Sie spielt Tanzmusik, begleitet von Congas, Kesselpauken, Ratsche und Kuhglocke. Die Paare tanzen dicht gedrängt. Wenn ein Auto passieren will, muss es warten, bis die Lochkarten für den nächsten Song eingelegt werden. Ächzend senkt und hebt sich der Blasebalg, das Handrad schiebt die Lochkarten über die 66 Zähne des Abtasters. Jeder Zahn eine Pfeife, jede Pfeife ein Ton, zusammen ergeben sie Bass, Trompeten, Piano und die Gesangstimme, und zwar in einer Lautstärke, die jedem Soundsystem zur Ehre gereichen würde. Ein Höllenspektakel.

„La Música“ steht auf der Orgel, in Europa wäre sie längst ein Museumsstück. In Frankreich gebaut, kam das tonnenschwere Holzmonster 1887 in Kubas Osten, wo es ein Fest der französischen Kolonialherren beschallen sollte. Ein Zollbeamter verliebte sich in die Orgel – damals noch mit Zylindern betrieben –, kaufte sie und nannte sie La Independencia, die Unabhängigkeit. Während des Unabhängigkeitskriegs, so heißt es, soll sie in ihrem Innern Waffen und Botschaften für die Aufständischen transportiert haben.

Sie blieb nicht die Einzige ihrer Art. Diverse Familien der Region verdienten mit Drehorgeln ihr Geld, indem sie Dorftänze ausrichteten. Doch irgendwann hatten die Kubaner die europäischen Walzer und Polkas satt. Ein gewisser Pancho Borbolla schickte in den 1920er-Jahren seine Söhne nach Frankreich, damit sie in Limonaire das Orgelbauen erlernten. Zurückgekehrt, brachten sie den Orgeln den kubanischen Sound bei: Sie stellten sie auf Lochstreifen um, die sie selbst stanzen konnten. La Independencia heißt seither La Música und spielt Son, Danzón, Son Montuno, Guaracha, Conga und Afro – das ganze Repertoire.

Je später der Abend, desto glasiger die Blicke. Mit jedem Schluck aus der Rumflasche malträtieren die Musiker die Felle ein bisschen mehr. „Spielt noch mal die ‚Pobre Diabla‘!“, johlen die Gäste. „Noch mal!“ Eigentlich ist La Música, die alte Tante, auf traditionelle Nummern gebucht. Heute aber hat sie auch den aktuellen Hit drauf: „Pobre Diabla“, einen puerto-ricanischer Reggaeton, der in diesem Frühjahr aus jeder Ritze plärrt. „Arme Teufelin, man hat dich auf der Straße weinen sehen / Um einen Mann, der keinen Centavo wert ist.“ Die Orgel flötet um ihr Leben, die Leute singen: „Arme Teufelin – weint um einen armen Teufel.“

„Ohne die ‚Pobre Diabla‘ wäre das Fest nicht so gut gewesen“, sagt Raquel Morales stolz. Sie hat sie mitgebracht, die arme Teufelin, den Superhit: einen Klotz aus aneinander geklebten Kartons, als Leihgabe der Familie Morales. Im Ort gibt es zwei staatliche Orgeln und drei in Privatbesitz. Doch die Morales sind mit Abstand die wichtigste Orgelfamilie. Um zu erfahren, warum, muss man ihr Haus in der Calle Oriente besuchen. Eine bescheidene Hütte aus Holzpfählen und Palmwedeln, die sich sieben Menschen teilen. Gleich im Eingangsbereich thront der Familienstolz: die Gran Organo de Hermanos Morales, die Große Orgel der Gebrüder Morales. Ihr Erbauer, der alte Abilio Morales, sitzt in seinem Werkstattverhau im Garten und flickt mit selbst gemachtem Klebstoff einen Blasebalg. Sein Vater hatte ihn einst in die Lehre zu den Borbollas nach Manzanillo geschickt. Er sollte das Orgelbauen lernen, um die alte französische Familienorgel El Verdun warten zu können.

„Die Musik erhebt die Seele“, sagt Morales. Seine 75 Jahre sieht man ihm nicht an. Im ganzen Bundesstaat ist er der Einzige, der Orgeln reparieren kann. „Wenn ich gehe, nehme ich es mit ins Grab. Mein einer Sohn, David, der Dicke, will es nicht lernen, und William schmeckt der Alkohol zu gut.“

In musikalischer Hinsicht zumindest funktioniert die Erbfolge. Während William im Bett seinen Rausch ausschläft, sitzen Abilio Morales’ Enkel Luis und Hector auf der Bettkante und üben Conga. Auch die Großenkel klopfen schon mit. Neffen, Brüder, Enkel – alle spielen sie im Ensemble. Schließlich sichert das Instrument den Lebensunterhalt der Sippe. Tochter Raquel führt die Geschäfte und steht an der Kurbel. „Da haben sich die Männer ziemlich angestellt“, sagt sie. „Weil es für das Ensemble schwierig sei, mit einer Frau zu reisen. Vor allem auf dem Land, wenn sich die Leute betrinken. Aber ich war hartnäckig.“ Auf Kuba ist sie die einzige Frau, die ein Orgelensemble leitet.

Zu Beginn der Achtzigerjahre, nachdem sie El Verdun dem Staat vermacht hatten, begann Morales mit dem Bau einer neuen Orgel. Das Holz kam von russischen Schiffen, die damit ihre Ladung beschwerten, die Plastikschläuche kamen aus alten Lagerbeständen, beim Fräsen von Eisenteilen half die technische Hochschule. Nach vier Jahren Bauzeit war sie endlich fertig, die Gran Organo de Hermanos Morales. Auch heute bastelt Morales noch täglich an ihr herum. „Der Magen der Orgel ist der Blasebalg, und das Gehirn ist dieses Maschinchen“, erklärt er und streichelt über die Feinmechanik des Abtasters. Jeder dieser Zähne senkt sich, wenn im Karton ein Loch ist. Das löst über den Schlauch ein Ventil aus, was die Luft in die Pfeifen bläst – und der Ton kommt.“

Ein Familiengeschäft war das Orgeln schon immer. „Als sie damals mit El Verdún loszogen“, da nannten sie sich Verdún und die heißen Muchachos“, erzählt Tante Ivonne, die gleich nebenan wohnt. Onkel Lorenzo, Abilio Morales’ Bruder, war einer dieser heißen Muchachos: „Damals bezahlte man pro getanztes Stück einen halben Peso“, erinnert er sich. „Es gab einen Kassierer, der mit dem Beutel herumging. Er ging hin zum Tanzpaar, hat kassiert, und dann haben die weitergetanzt.“ Vor der Revolution gab es keinen Strom in Niquero und nur Feldwege. Die Tanzorchester hätten in Booten kommen müssen, doch das war ihnen zu unbequem. Die Orgel aber, festgezurrt auf Lastwagen, kam überallhin. So wurde sie zum Vorläufer der mobilen Diskothek – und ihre Betreiber waren die ersten DJs der Weltgeschichte: Statt Platten legten sie Lochkarten auf.

Auch heute noch sorgen die Morales dafür, dass das Repertoire möglichst aktuell bleibt. Der kleine Ghettoblaster läuft im Dauerbetrieb. Wenn Raquel Morales eine Nummer hört, die ihr gefällt, ruft sie den Programmdirektor der Lokalsenders an. „Der sagt mir, wann die Nummer wieder im Programm läuft und ich den Kassettenrekorder anstellen muss.“ Die Kassette wandert dann zu einem studierten Musiker aus der Gegend, dem Abilio Morales beigebracht hat, wie man für Drehorgeln arrangiert. Und vor allem: Wie man dann den Klavierauszug auf die Lochkarten überträgt. Mit selbst gemachten Messwerkzeugen die zu Tonhöhe und Notenwert passenden Löcher auf dem Karton markieren, diese dann ausstanzen, den Song antesten, korrigieren, noch mal testen: In jedem neuen Titel steckt locker eine Woche Arbeit.

El Verdun steht schon sein gut drei Jahren untätig in einer Werkstatthalle in Holguín, vier Autostunden nördlich von Niquero. „Fabrica de Organo“ steht auf dem Firmenschild, doch El Verdun können sie derzeit nicht reparieren, weil es an Ersatzteilen fehlt. Auch Kubas einzige Orgelfabrik ist ein Familienbetrieb, hier werden Orgeln der Marke Cuayo hergestellt: „Die Standardorgel mit 52 Instrumenten kostet 25.000 Pesos für den inländischen Gebrauch“, erklärt Chef Eugenio Cuayo. Das sind zirka tausend Dollar. Ausländer zahlen etwa achttausend. Nachfrage gibt es genug, gerade auf dem Land sind die tönenden Holzkästen beliebt. „Im Moment gibt es im Land wahrscheinlich 180 Orgeln“, sagt Eugenio Cuayo. „Aber die Nachfrage nach Musikstücken können wir nicht befriedigen, weil wir keinen Karton haben.“

Die letzte Rolle Karton kam vor drei Jahren, seither läuft man auf Reserve. Auch das Beatles-Potpourri, das Cuayo einlegt, um die große Orgel mit ihren 79 Registern vorzuführen, hat schon ein paar Jahre auf dem Buckel. Doch Cuayo hat die Hoffnung nicht aufgegeben: „Dieses Jahr wird wieder Karton kommen. Er muss kommen! Angeblich stellt eine Fabrik in der Nähe von Trinidad wieder Karton her.“

Die Orgelfamilie Morales in Niquero hat sich von solchen Engpässen längst unabhängig gemacht. „Languste de Cuba“ steht auf ihren Lochkarten. Die delikaten Schalentiere sind zwar ausschließlich für den Export bestimmt, aber an die Verpackungen kommt man ran. „Für extreme Temperaturen gemacht und sehr widerstandsfähig“, sagt Abilio Morales. „Ideal für die Orgel.“ Die Hotels werfen die leeren Kartons weg, jemand holt sie ab und bringt sie den Morales. Wässern, lufttrocknen, pressen, ausschneiden und kleben: die Langustenkartons für den Gebrauch in der Orgel fit zu machen ist eine mühsame Angelegenheit.

Aber es lohnt sich. Denn so haben sie immer die neuesten Hits. Wie gute DJs, die jede Woche die Plattenkisten durchwühlen. Salsa, Timba, Reggaeton, Cumbia … auch die Las Ketchups hat die Gran Órgano drauf. Dass deren Stück „Aserejé“ sogar in Deutschland als „Kanzlersong“ berühmt war, wundert Raquel Morales nicht. „Die Morales haben eben ein Gefühl für Hits“, sagt sie.

CHRISTOPH TWICKEL, 39, lebt als freier Autor und Latin-DJ in Hamburg