Bangen im Friseursalon

Für Millionen Türken in Deutschland entscheidet sich am heutigen Samstag einiges: Die türkische Fußball-Nationalmannschaft trifft in der Qualifikationsrunde auf Griechenland – und muss gewinnen, wenn sie bei der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland mit dabei sein will

Von Hauke Friederichs und Christian Unger

Behcet Algan hat es sich genau ausgemalt: Sein Heimatland, die Türkei, gewinnt das Finale bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 – am liebsten gegen Deutschland. Doch die Chancen, dass der Traum Wahrheit wird, stehen nicht gut: Das türkische Team droht bereits in der Qualifikation auszuscheiden. Ausgerechnet gegen den alten Rivalen Griechenland müssen die Türken nun am heutigen Samstag gewinnen – sonst ist die Teilnahme an der WM in Deutschland kaum noch zu schaffen.

Die Griechen sind Zweiter in der Gruppe 2 der Qualifikationsrunde, dahinter stehen die Türken auf dem dritten Platz. Nur der Erstplatzierte und die zwei besten Zweitplazierten aus Europa kommen weiter. Würden die Türken gegen die Griechen verlieren, dann würde sich der Abstand auf fünf Punkte vergrößern. Die Chance, die Differenz bei den dann noch verbleibenden zwei Spielen aufzuholen, ist äußerst gering: Griechenland müsste beide Spiele verlieren und die Türkei zweimal gewinnen – einmal davon gegen den souveränen Gruppenersten, die Ukraine.

Behcet Algan seufzt. Bei der Weltmeisterschaft 2002 wurde die Türkei dritter, in der ARD sahen damals 11,1 Millionen Fußballfans das Spiel. Die WM 2006 in Deutschland sollte nun ein großes Fest der knapp zwei Millionen hier lebenden Türken werden. Aber Algan sagt: „Wenn wir gegen Griechenland verlieren, ist es definitiv aus“, und zupft nachdenklich an seinem buschigen schwarzen Schnurrbart.

Seit 25 Jahren lebt Algan im Hamburger Stadtteil Altona. Als Friseur hat er sich hier eine Existenz aufgebaut. An der rosafarbenen Wand seines Friseursalons hängen neben großen Spiegeln ein Foto von Franz Beckenbauer und ein rot-gelber Wimpel seiner Lieblingsmannschaft: Galatasaray Istanbul. Die Regale sind mit goldenen Fußball-Pokalen vollgestellt.

In seinen Friseurladen kommen nicht nur Kunden zum Haareschneiden, das Geschäft ist eine Anlaufstelle für Bekannte mit Problemen und Sorgen. Im Moment sorgen sich viele seiner Freunde um die WM-Teilnahme und fürchten die spielerische Stärke der Griechen. Pausenlos klingelt das Telefon. Algan ist der „Papa im Stadtviertel“, wie er selber sagt. Und er weiß, besonders für junge Türken ist die Nationalmannschaft ein Stück ihrer Identität. „Die Jugendlichen fiebern alle bei den Spielen der Nationalelf mit“, sagt er. „Für sie ist es wichtig, dass unsere Elf erfolgreich ist. Dann können sie in der Schule oder den Jugendtreffs selbstbewusster auftreten.“

Oder auch auf dem Platz an der Sternschanze, beim Landesliga-Kick. 2:0 heißt es beim Spiel des türkischen Vereins Örnek Türkspor gegen die Bosnier vom SC Bosna – die türkischen Fans jubeln, die Bosnier fluchen. Für drei Euro Eintritt sehen die Zuschauer ein müdes Landesliga-Spiel, und doch sind viele Fans des türkisch-deutschen Teams gekommen. Dem Spiel kehren sie nach einer Weile den Rücken zu und reden stattdessen lieber über die Chancen der Nationalmannschaft, doch noch zur WM zu kommen.

„Ein 2:0 Sieg gegen die Griechen und wir sind weiter“, sagt B. Celik. Seinen Vornamen will er nicht sagen, weil er zur Spielerbeobachtung hier ist. Für seinen kurdischen Verein FC Wellat Spor sucht er gute Fußballer. „Das Spiel gegen die Griechen ist ganz, ganz wichtig. Es geht um alles oder nichts.“ Da stimmt Heval Bingöl zu und sagt: „Wenn die türkische Mannschaft nicht dabei ist, bleiben Millionen Fußball-Fans zu Hause.“

300 Meter weiter in einem türkischen Kulturcafé ist das Spiel gegen Griechenland auch Thema. „Gegen die Griechen hört der Sport auf, da denke ich nur an Politik. Ich bin Nationalist“, sagt ein junger Mann aggressiv und wird immer ärgerlicher bei allen weiteren Fragen zum türkisch-griechischen Verhältnis. Seit dem Krieg um Zypern, der 1974 mit der Besetzung des nördlichen Inselteils durch die türkische Armee seinen Höhepunkt hatte, ist das Verhältnis zwischen den beiden Nato-Mitgliedern gespannt. Der Konflikt führte einer dauerhaften Teilung der Insel, die bis heute nicht überwunden ist. Türkische Nationalisten fordern die komplette Eroberung der Mittelmeerinsel. Auch den Angriff Griechenlands auf die Türkei von 1922 ist in nationalistischen Kreisen nicht vergessen.

Weitaus gelassener geht es in einer Kneipe auf der anderen Seite der Elbe zu. Fuat Cifci sitzt allein an einem Tisch in der Kneipe „Zur gemütlichen Ecke“ in Hamburg-Wilhelmsburg. Umringt von trostlosen grauen Plattenbau-Kolossen ist das türkische Fußballlokal in der kleinen Einkaufszeile die letzte Oase der Gemütlichkeit. Cifci trinkt schwarzen Tee und blättert im Sportteil der türkischen Zeitung Milliyet. Als die Männer am Nachbartisch hören, dass Fußballfragen gestellt werden, sind die drei bis eben freien Holzstühle schnell mit selbst ernannten Fußballexperten besetzt.

Cengez Carny ist einer von ihnen. Über die türkische Nationalmannschaft spricht er zur Zeit nicht so gerne, lieber schwärmt er von Fenerbahce Istanbul. Galatasaray, Besiktas – alle Vereine habe man in der Liga geschlagen, sagt Carny. Über Sieger spricht er gerne, doch als das bevorstehende Spiel gegen Griechenland zur Sprache kommt, verliert sein Gesicht die Begeisterung. Auch die anderen Gäste schauen bedrückt, es wird auffällig leise in der Kneipe. Einige Männer widmen sich wieder ihrem Okey-Spiel und schieben lustlos die kleinen hölzernen Spielsteine in die Mitte des Tisches. „Klar gewinnen wir gegen die Griechen“, sagt Cifci hastig, um die Stille zu durchbrechen. „Und klar“, ergänzt er mit entschlossener Stimme, „die Türkei ist bei der Weltmeisterschaft in Deutschland dabei!“ Sonst wäre die WM doch keine WM.

In der Kneipe wird es wieder laut. Die Männer stimmen Cifci zu. Er stützt sich mit seiner geballten Faust auf den Tisch. Dann hebt er den Zeigefinger und holt noch einmal tief Luft, bevor er mit seinem gebrochenen Deutsch loslegt: „Ich will mein türkisches Trikot mit Stolz tragen. Wenn wir hier in Deutschland nicht mitspielen, werden doch alle über die Türken lachen.“

Der Frust über die düstere Tabellensituation der türkischen Mannschaft in der Qualifikationsrunde sitzt tief. Dennoch: Die Hoffnung hat keiner am Tisch aufgegeben. „Erst geben wir den Griechen zwölf Punkte im Grand Prix und dann wollen sie auch noch gegen uns im Fußball gewinnen“, sagt Cifci schmunzelnd. „Das wäre doch nicht fair!“ Seine Tischnachbarn blicken wieder von ihren hölzernen Spielsteinen auf und stimmen mit einem „Türkiye, Türkiye“-Schlachtruft zu. Wenn die Türkei zur Weltmeisterschaft nach Deutschland fährt, dann steht Wilhelmsburg Kopf, prophezeit Cifci. So ganz scheint allerdings kaum einer mehr an die türkischen Fußballspieler zu glauben. Seinem Sohn hat Cifci jedenfalls schon mal ein Deutschland-Trikot gekauft. „Wenn wir es nicht schaffen, dann soll wenigstens Deutschland Weltmeister werden“, sagt er.